Rafael Chirbes: "Paris-Austerlitz"

Zwischen Begierde und Verachtung

Links das Buchcover von "Paris-Austerlitz", rechts der im Jahr 2015 verstorbene Autor Rafael Chirbes
Links das Buchcover von "Paris-Austerlitz", rechts der im Jahr 2015 verstorbene Autor Rafael Chirbes © Verlag Antje Kunstmann / dpa / Daniel Reinhardt
Von Dirk Fuhrig · 28.11.2016
Die Untiefen der Liebe: In "Paris-Austerlitz" erzählt Rafael Chirbes das Scheitern einer Beziehung zwischen einem Großbürger-Sohn und einem Arbeiter. Der letzte posthum veröffentlichte Roman des spanischen Schriftstellers ist jetzt auf Deutsch erschienen.
Als Rafael Chirbes im August 2015 im Alter von 66 Jahren starb, verloren die Spanier einen Intellektuellen, der ihnen seit dem Ende der Franco-Diktatur die Augen für die Grausamkeiten der Vergangenheit geöffnet hatte. Erst in der zweiten Hälfte seines Lebens wurde Chirbes in seinem Heimatland der Ruhm zuerkannt, den er zuvor im Ausland erworben hatte. Mit Romanen wie "Der lange Marsch" oder "Der Fall von Madrid" war Chirbes seit Mitte der 90er-Jahre gerade in Deutschland sehr erfolgreich geworden.
Chirbes – einst Marxist und linker Studenten-Aktivist – war einer der hellsichtigsten Kritiker Spaniens und seiner Politik, bis in die unmittelbare Gegenwart mit ihrer wirtschaftlichen Krise hinein. Sein letzter Roman "Paris-Austerlitz", der jetzt einige Monate nach seinem Tod veröffentlicht wurde, ist hingegen ein weitgehend unpolitisches Buch. Eine autobiografisch grundierte Reflexion über die Untiefen von Liebe, körperlicher Lust und Leidenschaft.

Hier kommen die Züge aus Spanien an

Am Pariser Bahnhof Austerlitz kommen Züge aus dem Südwesten an, aus Richtung Spanien. Und hier betritt auch der Erzähler in Chirbes' Roman den Boden der französischen Hauptstadt. Der knapp 30-jährige Sohn einer wohlhabenden Unternehmer-Familie in Madrid ist entschlossen, den ihn einengenden Rahmen wohlsituierten Bürgertums zu durchbrechen. Nicht nur, aber vielleicht auch, weil er homosexuell ist.
In Paris beginnt er eine Liebesbeziehung mit Michel – der fast doppelt so alt ist wie er selbst und sich als einfacher Arbeiter lediglich eine winzige, ungeheizte Wohnung in der Banlieue leisten kann.
Der eine besitzt die Vorzüge der Jugend, eine gesicherte Existenz und einen Hang zum Leben der Bohème – der andere die Fähigkeit zur unbedingten Liebe, mit allem, was dazu gehört, wie Eifersucht, Besitzansprüche, Verlustangst. Im Rückblick erinnert sich der Erzähler daran, wie aus Verliebtheit im Laufe weniger Monate bei Michel Liebe wurde, bei ihm selbst jedoch ein Gefühl von Gleichgültigkeit.
Als Michel an AIDS erkrankt und - wir befinden uns in den frühen 90er-Jahren - sehr schnell dahinsiecht, gelingt es dem Erzähler nicht einmal mehr, ihn am Krankenbett in den Tod zu begleiten.

Unterschiedliche Herkunft als Hindernis

Der Text ist eine mitunter grausame Selbstbefragung: Was bedeuteten Liebe, Freundschaft, Verantwortung? Wo endet die Begierde, wo beginnen seelische Gewalt und Verachtung? Der Erzähler schweift durch ein nächtliches Paris, durch Milieus der einfachen Leute und die Schwulen-Bars. Ein bisschen klingen die derb-dunklen, verruchten Stimmungen an, die wir aus den Werken Jean Genets kennen.
In der Analyse der Mechanismen des Scheiterns dieser Liebesbeziehung spielt die unterschiedliche Herkunft der beiden eine entscheidende Rolle. Das soziale Gefälle zwischen dem Großbürger-Sohn einerseits und dem Proletarier Michel macht die Beziehung dauerhaft schwierig, wenn nicht unmöglich. Die alte Klassenfrage, sie wird in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Ungleichheit bei Schriftstellern wie Chirbes wieder aktuell.
"Paris-Austerlitz" ist ein persönliches Buch, geschrieben in kühlen, eleganten, analytischen Sätzen (die von Damgar Ploetz an manchen Stellen leider etwas hakelig übersetzt wurden). Ein unsentimentaler und vielleicht gerade deshalb so berührender Roman über die unterschiedlichen Grade der Liebe.

Rafael Chirbes: Paris-Austerlitz
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz
Verlag Antje Kunstmann, München 2016
165 Seiten, 20 Euro

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