Rätsel weitergeben

Von Stefan Keim · 19.06.2010
Zum Start der Biennale "Neue Stücke aus Europa" wurden in Wiesbaden und Mainz Aufführungen aus Ländern wie Italien, Serbien und Litauen gezeigt, deren Theater selten im Blickpunkt der Aufmerksamkeit stehen.
Ein altmodisches, heruntergekommenes Varieté. Von der Ausstattung ist nicht viel übrig geblieben, nur ein paar Kostüme und die roten Vorhänge. Das Ensemble besteht aus Transvestiten und Transsexuellen, die in lauten Clownsnummern ihre Geschichten erzählen, singen und tanzen. Angeleitet werden sie von drei Feen, die mit den Menschen spielen, sie verzaubern und missbrauchen. Die Grenzen zwischen Mann und Frau sind aufgehoben. Wirklichkeit und Traum vermischen sich ebenso wie Verzweiflung und Entertainment.

Eine "amoralische Operette" nennt die Italienerin Emma Dante ihr Stück "Die Nutten" oder "Le Pulle". Mit dem Begriff "amoralisch" meint sie nicht das Leben der Prostituierten, sondern den gesellschaftlichen Zustand ihres Landes, das keine Werte mehr kenne. Aus dem Zustand der Amoralität, schreibt Emma Dante im Programmheft, könne eine neue Moral entstehen. Beim Betrachten der Aufführung stellen sich diese Gedanken allerdings nicht ein. Die Schauspieler überzeichnen von Beginn an heftig, verdrehen die Körper artistisch, schrauben die Stimmen in Falsetthöhen, kreischen, wimmern, juchzen. Emma Dante, die ihr Stück beim Inszenieren mit dem Ensemble entwickelt hat, zieht diesen extremen Stil durch.

Überraschenderweise nervt das nicht, im Gegenteil. Im Laufe des Abends schärfen sich Augen und Ohren für Zwischentöne. Und am Ende berühren die Geschichten der "Nutten" zutiefst, wie sie von den Eltern als Kinder zur Prostitution gezwungen werden, wie der Vater nicht verstehen kann, dass sein Sohn Fortunato sich als Frau fühlt. Der Mut zum Mitfühlen erinnert an Filme Pedro Almodovárs, die Lust an der ästhetischen Maßlosigkeit an Fellini.

Bereits zum zehnten Mal zeigt das 1992 in Bonn gegründete Festival Gegenwartsdramatik auch aus Ländern, die nicht Teil des internationalen Festivalzirkus sind. Manfred Beilharz, Generalintendant des Staatstheaters Wiesbaden, hat für die Auswahl ein System entwickelt, das immer noch seinesgleichen sucht. In jedem Land gibt es einen Paten, einen Dramatiker, der Stücke seiner Kollegen sichtet und vorschlägt. Dann reist die vierköpfige künstlerische Leitung der Biennale durch Europa, sichtet, diskutiert, lädt ein. Neben den Gründungseltern Beilharz und dem Dramatikerpaar Tankred Dorst und Ursula Ehler ist erstmals Yvonne Büdenhölzer mit dabei, die zuvor beim Berliner Theatertreffen gearbeitet hat. Sie berichtet, das Festival habe inzwischen einen guten Namen.

Büdenhölzer: "Das habe ich zum Beispiel in Island gespürt, dass es eine starke Konkurrenz unter den Autoren auch gibt. Die natürlich immer gefragt haben, wo warst du denn schon, was hast du dir angeguckt. Es gibt ja einige Autoren, die über das Festival entdeckt worden sind."

Die Serbin Biljana Srbljanovic und der Norweger Jon Fosse sind nur zwei Beispiele. Auch im Programm der Biennale spiegelt sich der Trend, dass neue Theatertexte nicht immer von einem abgeschieden arbeitenden Dramatiker geschrieben werden. Aus Island und der Türkei kommen sogar Texte von Autorenkollektiven.

Büdenhölzer: "Wir haben viele Stücke eingeladen wie zum Beispiel Emma Dante, Alvis Hermanis, das sind Stücke, die im Kontext mit dem Ensemble entstanden sind. Beide Autoren sind auch gleichzeitig die Regisseure dieser Abende. Da ist dann die Frage der Nachspielbarkeit ein eigenes Thema."

"Die Nutten" von Emma Dante sind in einer anderen Inszenierung kaum vorstellbar. Anders verhält es sich bei "Marta vom blauen Hügel", ein Erzählstück, das Alvis Hermanis mit seinem Neuen Theater Riga entwickelt hat. Zwölf Schauspieler sitzen an einem langen Tisch. Sie erinnern an eine Bäuerin, die Tausende von verschiedenen Krankheiten geheilt haben soll. Diese Marta hat wirklich gelebt, in einem Ort, der auf Lettisch "Blauer Berg" heißt. Bis zu ihrem Tod vor 18 Jahren pilgerten viele Menschen zu ihr. Diese Geschichten hat Hermanis mit seinem Ensemble gesammelt und collagiert. Nicht zufällig sind es ein Dutzend Schauspieler, wie die zwölf Apostel. Zwischen den Erzählungen singen sie das Lieblingslied Martas "Ein feste Burg ist unser Gott".

Neben politischen Themen – natürlich spielt auch bei diesem Festival die Finanzkrise eine Rolle – geht es in vielen neuen Stücken aus Europa um Mythen. Natürlich aus der Gegenwart betrachtet. "Das Puppenschiff" nennt die 1974 geborene Milena Markovic aus Serbien ihr Stück, das viele Märchenmotive zusammenführt. Wie Lewis Carrolls Alice macht sich ein Mädchen auf die Reise in ein Wunderland, das gar nichts verspielt-fantastisches mehr an sich hat. Gleich zu Beginn gerät sie in ein Haus, das von sexuell unterversorgten Zwergen bewohnt wird. Der Text rutscht ab in eine Zotenparade, als hätte die Autorin von Kinomachwerken wie "Grimms Märchen vom lüsternen Pärchen" oder "Schneeflittchen" abgeschrieben. Die junge Frau heiratet einen Bären, kriegt ein Kind, wird zur Studentin Däumelinchen, heiratet einen Adler, wird zur Hexe. Die Regisseurin Ana Tomovic schreibt im Programmheft, sie wolle das Rätsel des Stückes an die Zuschauer weitergeben. Eine nette Formulierung für die Erkenntnis, dass sie den Quatsch auch nicht verstanden hat.

So beginnt die Biennale in Wiesbaden und Mainz mit einem italienischen Höhenflug, einer serbischen Bruchlandung und einem interessanten Zwischending von Alvis Hermanis.