Pus kleiner Bruder

13.12.2006
Natürlich ist Karen Duves "Thomas Müller und der Zirkusbär" zuerst einmal ein Kinderbuch. Kleinformatig, dünn (leider fehlen die Seitenzahlen) und voller zum Teil ganzseitiger Bilder erzählt es die Geschichte des Plüschbären Thomas Müller, der am zweiten Weihnachtstag auszieht, um mit einem großen Zirkusbären bis in dessen Heimat Sibirien zu radeln.
Natürlich ist es kein reines Kinderbuch, könnte man aber genauso gut argumentieren. Denn wie ein Märchen, dessen tiefere Bedeutung sich erst dem erwachsenen Leser oder Zuhörer erschließt, erzählt auch dieses Buch eine Geschichte, die von Eltern bestimmt noch einmal anders gelesen wird als von ihrem Nachwuchs.

Dass Thomas Müller nicht bis Sibirien kommen wird, das kann man sich als Erwachsener von Anfang an denken. Und während Kinder sich ganz auf die Geschichte einlassen können - vom Zirkusbesuch der Familie Wortmann, vom Zirkusbären Momps, der den kleinen Plüschbären zum Weglaufen anstiftet, von der Radeltour an einem schneeverwehten Weihnachtstag und vom Unterschlüpfen bei Tante Gerda in Hamburg - genießen Erwachsene (Vor-)Leser eher die hintergründige Komik der Geschichte.

Eine Komik, die sich aus der distanzierten Anrede und dem scheinbaren Ernst ergibt, mit der Karen Duve die leicht versponnenen Eigenheiten ihrer Protagonisten schildert. Aus der förmlichen Steifheit, mit der Eltern und Sohn, Plüschbär und Katze miteinander umgehen, und aus dem ein wenig umständlichen, altmodisch wirkenden Erzählton. Eine Komik, die an den Klassiker "Pu der Bär" erinnert, an seine herrlich naive Sprache und den erstaunten Bären-Blick auf die Welt.

Drei Jahre sind seit dem Erscheinen des ersten Thomas-Müller-Bandes vergangen. In der Geschichte selbst ist das letzte Weihnachtsfest aber erst ein Jahr her. Der Plüschbär verhält sich immer noch wie ein etwas verzogenes Kind: quengelig, fordernd und beleidigt, als er nicht gleich bekommt, was er unbedingt haben will: ein Fahrrad. Besser als mit jeder Kinderfigur können kleine Leser und Zuhörer sich mit diesem Schmusetier identifizieren. Kann man doch in die geliebten Kuscheltiere viel besser alle Wünsche und Ängste projizieren als in realistisch gezeichnete Personen.

Karen Duve erzählt in "Thomas Müller und der Zirkusbär" nicht nur eine kleine Abenteuer-, sondern auch eine kurze Entwicklungsgeschichte. Reisen heißt, Er-Fahrungen zu machen in des Wortes eigenster Bedeutung. Und wenn der Plüschbär auch gar nicht so viel sieht von der großen, weiten Welt, so lernt er doch schließlich seinen schlitzohrigen Reisebegleiter zu durchschauen und sich selbst besser kennen. Und begreift, dass die eigene Familie das Beste ist, was man haben kann auf der Welt - auch ohne Fahrrad.

Immer mehr Autoren entdecken das Kinderbuch für sich. Auch im Fall von Karen Duve ist das ein Gewinn für die Kinderliteraturszene. Denn die Autorin beugt sich nicht hinunter zu den lieben Kleinen, bietet keine Weihnachtsbotschaft, sondern schildert den Aufbruch ins Ungewisse und die Rückkehr in die Geborgenheit auf angemessen einfache Weise. Sensibel und resolut, ernsthaft und zugleich voller Spaß am Erzählen.

Petra Kolitschs Illustrationen wirken wie eine Mischung aus Ali Mitgutschs Wimmelbilderbüchern und Michael Sowas magischen Phantasien. Ein fröhlich buntes Zirkuszelt oder der singende Bär auf dem Fahrrad, sie bilden einen interessanten Kontrast zu der dunkel dräuenden Atmosphäre im Hamburger Hafen oder der gruseligen Hütte im Wald. So lädt Karen Duves Weihnachtsgeschichte nicht nur zum Lesen und Vorlesen ein, zum Anschauen und Blättern, sondern auch zum Nachdenken und Darüberreden. Und was will man mehr zu Weihnachten?

Rezensiert von Sylvia Schwab


Karen Duve: Thomas Müller und der Zirkusbär
Illustriert von Petra Kolitsch
Eichborn Verlag 2006
80 Seiten, geb., 9,95 Euro.