"Psychopath sein heißt nicht, dass man Verbrecher wird"

Niels Birbaumer im Gespräch mit Susanne Burg · 02.04.2012
Die meisten Soziopathen säßen nicht im Gefängnis, sondern in erfolgreichen Positionen, sagt der Tübinger Neurowissenschaftler Niels Birbaumer. Als Therapeut versucht er, nicht funktionsfähige Hirnteile seiner Patienten wieder zu aktivieren, um Gefühle wie Angst und Empathie zu wecken.
Klaus Pokatzky: Niels Birbaumer hat mit kriminellen Psychopathen zu tun, die morden und vergewaltigen und die das Leid ihrer Opfer völlig kalt lässt. Kriminelle Psychopathen gelten als untherapierbar, ohne jedes Mitgefühl oder ein Gewissen. Der Neurowissenschaftler Niels Birbaumer von der Universität Tübingen aber glaubt daran, dass sich auch die bösesten Menschen ändern können, und arbeitet an einem Trainingsprogramm. Das soll Psychopathen helfen, ihre Persönlichkeitsstörung zu überwinden, und sie so auch weniger gefährlich machen. Dazu hat Niels Birbaumer psychopathische Sexualverbrecher und gesunde Menschen in einen Kernspintomografen gelegt und die Hirn-Scans miteinander verglichen.

Susanne Burg hat mit ihm gesprochen und wollte erst einmal wissen, was denn nun das Hirn eines Psychopathen von dem eines normalen Menschen unterscheidet?

Niels Birbaumer: Dass die Hirnteile, die an der Erzeugung von Angst vor den Folgen dessen, was man tut für sich und für andere, dass diese Hirnteile still sind, also nicht arbeiten, nicht funktionsfähig sind. Und aufgrund dieser Tatsache schließen wir jetzt, dass man diese Hirnteile wieder in Gang bringen muss. Und wenn die wieder funktionieren würden, dann könnte der Psychopath oder die Psychopathin auch die gefühlsmäßig die Folgen dessen, was sie oder er tut, abschätzen. Das können die im Moment nicht. Sie können zwar geistig, logisch abschätzen, was sie tun, und die Folgen dessen, was sie tun, aber es fehlt die Gefühlskomponente.

Burg: Also so was wie Angst, Empathie …

Birbaumer: … genau …

Burg: Wissen Sie denn, werden Psychopathen schon als solche geboren …

Birbaumer: … nein …

Burg: … laut Statistik sind vier Prozent der Bevölkerung Psychopathen, aber nicht alle werden ja zu Mördern. Warum nicht?

Birbaumer: Die meisten der Soziopathen sitzen in erfolgreichen Positionen, an den höchsten Stellen, vor allem, wenn sie intelligent sind und aus einem entsprechenden Hintergrund kommen. Also, Psychopath sein heißt nicht, dass man Verbrecher wird, im Gegenteil. Die erfolglosen landen eben dann im Gefängnis. Der Mensch kommt, was Lernen betrifft, als eine Tabula rasa auf die Welt, also, es ist keineswegs festgelegt, in welche soziale Richtung wir gehen. Und wie wir gehen, hängt eben von der Formung der Nervenzellen in der Entwicklung ab. Und insofern muss natürlich auch die Psychopathie und das antisoziale Verhalten, was daran gebunden ist, veränderbar sein.

Burg: Das heißt, alles, was wir lernen und was wir erfahren, hat ein … verändert das Gehirn?

Birbaumer: Natürlich. Vor allem dann, wenn es wichtige, dauerhafte Veränderungen sind. Zum Beispiel eben wie eine unvorteilhafte Jugend, wie viele dieser kriminellen Psychopathen, die haben nämlich massive Kindheitstraumen hinter sich, massive Erziehungsfehler, verwahrloste, alkoholisierte Eltern und so fort. Immer dieselbe Geschichte. Und das formt natürlich das Gehirn in eine bestimmte Richtung. Während die erfolgreichen Psychopathen, die an den höchsten Positionen sitzen, die haben immer eine solche Kindheitsentwicklung nicht, sind aber genau so gefühllos wie diejenigen, die wir im Gefängnis finden.

Burg: Das heißt, könnten auch die Politiker zu Mördern werden?

Birbaumer: Jeder, etwa 70 Prozent der Bevölkerung kann zum Mörder werden, es gibt ja Untersuchungen schon nach dem Krieg von Psychologen, die zeigen, dass etwa 70 Prozent der Bevölkerung, egal, in welchem Alter und welchem Geschlecht, wenn man erst anschafft, wenn man also mehr oder weniger direkt befiehlt, in der Lage sind, jemanden umzubringen, auch wenn sie sehen, wie der Betroffene stirbt. Insofern ist das nicht das Kriterium. Das Kriterium ist sozusagen das Gefühl, das man dabei hat. Ein Teil, ein erheblicher Teil derer, die jemand anderen umbringt, hat dann hinterher Schuldgefühle, ein kleiner Teil nicht. Und das sind dann die Soziopathen.

Burg: Sie haben selber als Jugendlicher in einer Gang Autos geknackt. Glauben Sie vielleicht deswegen auch daran, dass Menschen sich ändern können, weil Sie selbst sich geändert haben?

Birbaumer: Ich sage über mich nur das, was ich bei mir messen kann. Ich habe es ja gemessen und habe festgestellt, dass bei mir die Hirnteile, die mit Angst zu tun haben, extrem aktiv sind, fast zu aktiv sind. Und die Tatsache, dass ich da in dieser Zeit auf die schiefe Bahn gekommen bin, lag primär eben an schulischen und Umweltfaktoren, wie Sie es eben gesagt haben. Und andere positive Umweltfaktoren haben dann, und Erziehung, haben dann wieder bewirkt, dass ich, so wie man halt so sagt, auf eine vernünftige Bahn gekommen bin. Und so geht es vielen. Aber ich glaube nicht, dass mein Interesse an der Soziopathie dadurch motiviert war, sondern mein Interesse war vor allem eben durch die Behauptung motiviert, dass diese Leute nicht lernen können und dass man sie nicht ändern kann. Und dagegen sprechen nun alle Fakten.

Burg: In unserer Themenwoche hier im Deutschlandradio Kultur spreche ich über das Böse mit dem Neurowissenschaftler Niels Birbaumer. Herr Birbaumer, beschäftigen wir uns genau mal mit dieser Frage: Wie kann man böse Menschen ändern? Also, Sie arbeiten ja mit Psychopathen. Worin besteht denn genau das Training, dass Sie mit denen unternehmen?

Birbaumer: Also, unser Training besteht darin, dass wir diesen Menschen die Gehirnteile, die nicht aktiv sind, auf einem Computerbildschirm zeigen. Das heißt, sie liegen in diesen Großgeräten, in diesen Scannern, die ihre Hirnteile – diese Teile liegen ja in der Tiefe des Gehirns, die kann man nicht leicht sehen oder registrieren –, und wir machen sie beobachtbar, indem wir sie auf einem Bildschirm zum Beispiel in Form eines Lichts einfach darstellen, wie aktiv sie sind. Wenn sie also jetzt ihr Furchtsystem sehr aktiv machen, dann leuchtet am Bildschirm ein roter Punkt auf. Und sie kriegen einfach die Aufforderung, diesen roten Punkt am Bildschirm so groß wie möglich zu machen. Wie beim Computerspiel. Sie können es aber nur dadurch, dass sie eben diese Hirnteile, die bei ihnen nicht funktionieren, wieder aktiv machen.

Und das lernen sie im Lauf – das lernen alle Menschen –, im Lauf der Zeit. Das dauert natürlich, wenn dieses Systemsystem defekt ist oder nicht gut funktioniert, länger. So dauert es auch bei einem Psychopathen länger. Wenn ein gesunder Mensch das in einer Stunde beherrscht, braucht ein Psychopath bis zu elf Stunden, bis er das kann. Und dann ändert sich seine Furcht. Dann wird er furchtsamer, dann kann er sich auch gefühlsmäßig vorstellen, was die Folgen seines Verhaltens für andere sind.

Burg: Nun sind ja Psychopathen häufig auch Verstellungsgenies. Das heißt, es gelingt ihnen oft perfekt, ihre Umwelt zu täuschen …

Birbaumer: … natürlich …

Burg: … woher wissen Sie, dass Ihnen Ihre Patienten nicht Erfolge einfach vorgaukeln?

Birbaumer: Das geht nicht. Das Gerät misst Gehirnteile, misst die Aktivierung der Hirnteile, diese Stoffwechseländerung, also die Durchblutung des Gehirns. Und die Durchblutung des Gehirns können sie zwar durch Vortäuschung verändern, aber sie können die Durchblutung nicht vortäuschen, die läuft einfach den ganzen Tag ab. Genau so wenig, wie Sie die Hormone in Ihrer Magenschleimhaut vortäuschen können. Also, in diesen Trainingsmaßnahmen werden wir nicht getäuscht. Wenn ich natürlich den Soziopathen oder Verbrecher hinterher frage, na, hast du jetzt Angst oder hast du nicht Angst oder kannst du dich in den andern hineinversetzen, dann ist diese Aussage natürlich oft getäuscht, denn da sagen natürlich die Leute das, was sie glauben, was sie aus dem Gefängnis rausbringt. Und da muss man vorsichtig sein. Aber was diese Hirnparameter betrifft, das können Sie nicht vortäuschen.

Burg: Inwieweit ist es denn auch wichtig, dass die Patienten sich wirklich ändern wollen?

Birbaumer: Das ist entscheidend. Wenn sie sich nicht ändern wollen, kann weder mein Training noch irgend ein anderes Training eine Veränderung erzielen. Die Entscheidung ist natürlich … Aber diese Entscheidung kann natürlich auch wieder gefühlsmäßig sein oder sie ist einfach durch die Verhältnisse aufgezwungen. Das ist aber sowohl den Gefängnispsychologen wie auch uns relativ egal. Entscheidend ist, dass der Patient oder der Gefängnisinsasse eben diese Lernprozesse durchmacht, und dann stabilisieren sie sich. Sie lernen ja auch in der Schule auch viele Dinge, die Sie nicht wollen und die bleiben Ihr ganzes Leben lang erhalten, und so kann es auch hier sein. Die Motivation bei diesen Gefangenen oder bei so Psychopathen, etwas zu lernen, ist außerordentlich gering oder überhaupt nicht vorhanden am Anfang, aber im Lauf der Zeit entwickelt sie sich.

Burg: Haben Sie ein Beispiel für einen Patienten, den Sie erfolgreich therapiert haben? Oder was heißt eigentlich erfolgreich, was gilt dann als Erfolg?

Birbaumer: Ja, das ist eine gute Frage. Eigentlich wäre der Erfolg ja die Tatsache, dass jemand, der solche Verbrechen begangen hat, sie nie wieder begeht und auch nie wieder Tendenz dazu verspürt. Das wäre das entscheidende Maß. Dazu müssen Sie aber natürlich, müssten Sie die betroffenen Personen entlassen und das prüfen. Und dazu müssten, um das zu tun, bei dem hohen Risiko, müssten Sie genau wissen, dass es eben nie wieder passieren kann. Weil,ein einziger Fehler kann einen toten Menschen bedeuten. Da wir im Moment erst im Anfang stehen, würde ich also nie behaupten, dass diese Maßnahmen ein langfristiges Null-Risiko erzielen können.

Man muss sie mit den Maßnahmen, die heute ja auch sehr erfolgreich in den Gefängnissen angewandt werden, also vor allem diese psychologischen Trainingsmaßnahmen, die dort betrieben werden, bei manchen sehr schweren Fällen eben kombinieren, und wenn sie dann entsprechend den gesetzlichen Bedingungen entlassen werden, dann könnte man über die Jahre hinweg prüfen, ob das dann wirklich sehr viel bringt. Das wissen wir im Moment gar nicht. Wir wissen nur, dass durch dieses Training Gefühlsregionen wieder anfangen zu arbeiten. Ob sich das dann auch ins tägliche Leben umsetzen lässt, das wissen wir nicht. Das können wir nicht riskieren.

Burg: Also, insofern kann man auch gar nicht sagen, ob man damit wirkliche Serienmörder verändern kann?

Birbaumer: Nein, nein, nein. Das kann man erst sagen eben, wenn diese Serienmörder auf freiem Fuß sind. Aber das tun wir nicht, niemand würde die auf freien Fuß setzen. Obwohl natürlich, Sie wissen genau, in jeder Kriegshandlung, in jedem autoritären Regime, eben unter Krisenverhältnissen, werden ja ein erheblicher Teil der Menschen zu Massenmördern und zu Mördern. Und die werden dann, wenn sich die Kriegssituation verändert hat oder kein Krieg mehr ist, sind sie das natürlich nicht mehr. Schauen Sie doch unsere eigene Geschichte, die deutsche Geschichte an: Keiner, der massive Massenmorde in Russland oder Polen oder an den Juden verübt hat – das waren meistens Familienväter –, hat je in seinem Leben wieder irgendjemand etwas physisch zuleide getan, nachdem der Krieg vorbei war. Trotzdem waren sie Massenmörder.

Burg: Und sie wären es vielleicht wieder geworden, wenn die Bedingungen entsprechend gewesen wären …

Birbaumer: … natürlich, selbstverständlich!

Burg: Im letzten Jahrtausend wurden Tausende psychotische Patienten behandelt, indem man ihnen die Stirnhirnphase durchtrennte. Das ist gescheitert, die Heilung trat nicht ein. Wie weit ist man denn heute, könnte man Psychopathen heute auch operieren, statt sie zu trainieren?

Birbaumer: Ja, darüber wird viel diskutiert. Natürlich könnte man das, wir kennen ja diese Hirnregionen, die haben wir ja gefunden, die beteiligt sind. Man braucht sie nicht operieren, man könnte nur durch diese Regionen Elektroden einpflanzen und sie elektrisch stimulieren, sodass sie aktiv sind, und damit wäre rein theoretisch das Problem … nicht behoben, aber das Problem wahrscheinlich deutlich reduziert. Abgesehen von den Risiken, die damit verbunden sind, und vor allem auch mit den Kosten, die damit verbunden sind, wissen wir bis jetzt nicht, ob diese Stimulationsverfahren in irgendeiner Weise besser sind wie unsere Lernverfahren. Und die sind natürlich sehr viel billiger und zerstören das Gehirn nicht und bedeuten auch keine Gefahr für den Betroffenen. Aber natürlich ist es richtig: Man könnte heute durch Einpflanzung von Elektroden hier einiges verändern.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Das abgrundtief Böse. Themenwoche im Radiofeuilleton vom 2. bis 7. April 2012
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