Psychologe: Das Hochwasser prägt die Gesellschaft

Moderation: Nana Brink · 15.06.2013
Hochwasser werde sich ins kollektive Gedächtnis einprägen und dazu führen, Eigennutz für die Gemeinschaft zurückzustellen, erklärt der Therapeut Stephan Grünewald. Viele Menschen verspürten angesichts der Überschwemmungen den Wunsch, anderen zu helfen.
Nana Brink: Das Hochwasser spaltet gerade Deutschland in zwei Teile: in die, die den Keller voller Wasser haben, und die, die auf dem Trockenen sitzen. Was für eine banale Erkenntnis, könnten Sie jetzt sagen! Aber es wird eine interessante Frage sein, ob diese Hochwasserkatastrophe unsere Gesellschaft prägen wird. Überhaupt, wie denken wir über Naturkatastrophen nach, verändern sie uns? Stephan Grünewald ist Psychologe und Therapeut und leitet das Institut Rheingold für Medienanalysen. Schönen guten Morgen, Herr Grünewald!

Stephan Grünewald: Guten Morgen, Frau Brink!

Brink: Der Mensch neigt ja dazu, zu verdrängen, gerade wenn er nicht betroffen ist. Aber was ist eigentlich mit der kollektiven Erinnerung, zum Beispiel an die Hamburger Flutwelle 62 oder an die Oderflut 97?

Grünewald: Ja, wir verdrängen natürlich Unangenehmes. Diese Katastrophen, die Hochwasserkatastrophe, die Fluten haben eine fast biblische Urgewalt und diese Macht der Bilder von überströmten Landschaften, vollgelaufenen Kellern und Straßen, die prägt sich ein und die wird auch von den Menschen behalten, weil die wirklich unser gesellschaftliches Sicherheitsbedürfnis zutiefst erschüttert. Wir werden tendenziell quasi zu Katastrophengaffern, weil wir verstehen wollen, wie es zu diesem Unheil kommen konnte, und weil wir gleichzeitig einen Impuls verspüren, was können wir machen, um einerseits Ad-hoc-Abhilfe zu verschaffen, andererseits langfristig zu verhindern, dass so was noch mal eintritt.

Brink: Bevor wir jetzt über das Zweite dann vielleicht noch sprechen, erst mal den ersten Teil: Was bleibt denn ganz konkret hängen von solchen Ereignissen? Kann man das festmachen?

Grünewald: Also, die Katastrophe, die gehorcht einer, man kann sagen, doppelten Dramaturgie. Also, im ersten Akt werden wir Zeuge, wie das Unheil sich immer stärker zusammenbraut und wie es den Menschen übermannt. Das heißt, das sind dann bewegende Geschichten von Einzelschicksalen, die wir erleben, von Mitbürgern, die über Nacht durch die Flut alles, was ihnen wichtig und bedeutsam war, verloren haben.

Und im zweiten Akt beginnt dann quasi das Rettungsdrama, auf einmal sehen wir helfende Hände, die überall herbeiströmen, wir spüren eine Spendenbereitschaft und bemerken den kollektiven gesellschaftlichen Willen, sich dieser Flut entgegenzustemmen.

Brink: Also, dann bleibt auch Positives hängen? Wir haben ja zum Beispiel bei den Flutwellen immer wieder die Erfahrung gemacht, also jetzt zum Beispiel ganz konkret, dass Schulklassen von der dänischen Grenze dann an die Elbe fahren, um zu helfen!

Grünewald: Also, das ist letztendlich diese biblische Urgewalt, die macht uns wieder erfahrbar, warum wir überhaupt einen gesellschaftlichen Zusammenhalt, warum wir eine Kultur brauchen. Und die Menschen erleben ja ihren sonstigen Alltag eher sehr formalisiert, sie sitzen im Büro, sie machen zehn Stunden Sachen, von denen sie am Abend gar nicht mehr wissen, was sie gemacht haben.

Über diese Katastrophe hat man auf einmal den Eindruck, sinnvoll eingreifen zu tun, man spürt wirklich, wie der eigene Einsatz anderen zugutekommt. Und man hat dadurch auch nicht nur dieses berauschende Gemeinschaftsgefühl, man hat auch Erfolgserlebnisse, wenn der Wall der Sandsäcke standhält.

Brink: Aber das ist ja eigentlich auch, ganz genau betrachtet, ein bisschen zynisch, dass wir solche Katastrophen brauchen, um das zu spüren?

Grünewald: Das ist nicht zynisch, da hat Sigmund Freud schon im "Unbehagen in der Kultur" drauf hingewiesen: Wir brauchen eigentlich diese elementare Erfahrung, dass wir alleine der Übermacht der Natur schutzlos ausgeliefert sind. Und erst diese quasi Urerfahrung, die führt zu der Einsicht, wir schließen uns zusammen, wir bilden eine Kultur, und das bedeutet, dass jeder einen Verzicht leistet, dass jeder sich quasi mit Steuern oder mit Arbeitszeit für das große Ganze einsetzt.

Das ist, glaube ich, eine Erfahrung, die wir in der heutigen Zeit immer fast auch brauchen, um wieder das Gespür zu kriegen, ja, es ist sinnvoll, Steuern zu zahlen, es macht auch Sinn, sich nicht nur selbst zu optimieren, sondern Gemeinschaftsleistungen zu bringen.

Brink: Trägt sich das denn auch in eine folgende Generation fort, wenn Sie von Erinnerungskultur sprechen?

Grünewald: Also, diese Erinnerungskultur soll ja quasi wirklich wie ein Mahnmal folgende Generationen auch daran erinnern: Wir sind bedroht. Und dieses Erinnern hat in der Regel ja eine produktive Note, dass man wachsam ist, dass man vielleicht hier und da wider den Eigennutz zustimmt, wenn bestimmte Bauprojekte, die das Hochwasser abwenden sollen, initiiert werden.

Wir sind natürlich danach immer in dem Konflikt, ordnen wir uns quasi dem Katastrophenschutz, der Prophylaxe unter und verzichten da vielleicht auf persönliche Privilegien, oder sind wir am Ende wieder die Egomanen, die nur gucken, wie sie selber im Trockenen bleiben.

Brink: Ja, sind wir das?

Grünewald: Dieser Konflikt wird toben und im Moment, im Angesicht der Katastrophe, sind fast alle bereit natürlich, Opferleistungen zu bringen, auf persönliche Privilegien zu verzichten. Die Gefahr ist natürlich immer, wenn das Wasser abgezogen ist, dass diese Bereitschaft dann quasi auch mit einsickert.

Brink: Sie haben es in Ihrer ersten Antwort ja schon angedeutet, dass es auch so etwas wie ein Katastrophengedächtnis geben könnte. Man fragt sich ja immer wieder, warum siedeln sich Menschen zum Beispiel in solchen Gebieten an, wenn sie doch immer wieder wissen, dass der Fluss über die Ufer tritt!

Grünewald: Ja, das liegt daran, wir sind letztendlich keine rationalen Menschen. Und letztendlich, die Konfrontation mit dem Unheil führt zu einer Art Verlebendigung. Also, Goethe hat im "Faust II" im Grunde genommen diese Vision vom freien Volk auf freiem Land errichtet, wo sich das Volk jeden Tag erneut gegen die Übermacht der Natur, gegen die Flut sein Land erobern muss, und hat das als höchsten Zustand des Glücks und der Freiheit beschworen.

Das heißt, das ist nicht nur landschaftlich schön, sondern wir haben dann auch eine Gefährdung, die paradoxerweise, wenn sie uns nicht gerade heute übermannt, das Leben reicher machen kann.

Brink: Also, wir brauchen diese Art von Gefährdung, um uns sozusagen dann auch als Gemeinschaft zu spüren, um das jetzt mal so ein bisschen mit Goethe auszudrücken?

Grünewald: Also, durch diese Gefährdung laufen wir zumindest nicht Gefahr, in den Eigennutz, in das quasi Nur-noch-sich-selbst-Optimieren abzurutschen. Wir lernen die Freiheit, wir lernen aber auch den Zusammenhalt, die Gesellschaft zu schätzen, wenn wir hin und wieder die Erfahrung machen, sie steht auf tönernen oder auf wässernden Füßen.

Brink: Stephan Grünewald, Psychologe, Therapeut und Leiter des Instituts Rheingold, schönen Dank für das Gespräch, Herr Grünewald!

Grünewald: Gitte, Frau Brink, gerne!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.