Psychoanalyse

Der Blick in fremde Köpfe

Von Astrid von Friesen · 06.04.2014
Der Historiker Anthony Kauders nimmt seine Leser mit auf eine Reise durch die Geschichte der Psychoanalyse. Das Buch gewährt einen Blick auf das Verhältnis der Deutschen zur Sexualität und zu ihren Träumen.
Sexualität, Seele, Rasse, Wiedergutmachung, Kindheit, Vergangenheit: Wie mit Pawlowschen Schlüsselbegriffen baut der Schweizer Historiker Anthony Kauders sein Buch auf. Er verbindet diese Schlagwörter mit Zeitabschnitten von 1913 bis 1985 und bietet uns damit einen originellen Blick auf geistige Strömungen des 20. Jahrhunderts, darunter die Psychoanalyse.
Er beschreibt, wie sie angenommen oder abgelehnt wurde, wie sie jeweils das Denken und die Gesellschaft beeinflusste, so das Verhältnis der Deutschen zur Sexualität, zur Gewalt, zum Todestrieb, zu den Träumen und zum bürgerlichen ICH. Auch das Spannungsverhältnis zwischen den Psychiatern und den Intellektuellen in den Phasen vor, während und nach dem Faschismus.
Der Autor geht von der These aus, dass die "Janusköpfigkeit" der Psychoanalyse als Wissenschaft der Seele, als Menschenbild und als Philosophie einen Einblick in die Struktur und die Mentalität einer Gesellschaft vermittelt.
"Anhand der Freud-Rezeption können wir die Leit- und Menschenbilder, die Ideale und Utopien, die Ängste und Hoffnungen einer Gesellschaft erforschen."
Spannend, weil just an diesem Topos extreme Facetten von Begeisterung bis zur Verteufelung sichtbar werden! Anthony Kauders definiert die Psychoanalyse als ein "Denkkollektiv", wie Ludwig Fleck, ein polnisch-jüdischer Biologe, es in den 1930er Jahren formulierte. Als eine:
"Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, …als Zirkulationen von Ideen und sozialen Praktiken und die aus ihnen resultierende unbewusste stilgemäße Konditionierung von Wahrnehmung, Denken und Handeln der Forscher."
Die kulturelle Mechanik des Denkens
Wenn die Analytiker selbst diese Definition annehmen könnten, wären sie befreit von dem Anspruch, das dominante Paradigma in der Psychologie sein zu müssen! Ein weiterer Gewinn wäre, dass man den Streit, ob Naturwissenschaft oder nicht, nach mehr als 100 Jahren endlich beenden könnte. Der berühmte Anthropologe Claude Levi-Strauss hat in "Wildes Denken" die kulturelle Mechanik aufgezeigt, die gleichermaßen dem Denken der Naturwissenschaftler wie dem primitiver Völker zugrunde liegt.
"Wir sind besser, weil die anderen schlechter sind."
Zum gleichen Schluss kommt Kauders. Er zeigt, dass die Arbeit mit dem Unbewussten keine neutrale Sprache nutzt, da der Sachverhalt nur subjektiv beschrieben und verstanden werden kann und, dass Freuds Metaphern unsere Auffassung von Subjektivität zutiefst beeinflussten: Begriffe wie Über-Ich, Verdrängung, Lustprinzip, Ödipus-Komplex sind Teile der Alltagssprache und des Selbstverständnisses jedes Einzelnen geworden. Heute basiert die Spannung in jedem besseren Krimi auf psychoanalytischem Wissen. Paradoxerweise und im Gegensatz dazu wird dieses jedoch zunehmend aus den Psychiatrien und Therapien verbannt.
Freunds Thesen zur frühkindlichen Sexualität und die Zusammenhänge zwischen Verdrängungen und Neurosen waren revolutionär und wurden von "Studenten, Bohemiens, Anarchisten und Expressionisten", von der Lebensreformbewegung, von Wandervögeln und Burschenschaftlern vor dem 1. Weltkrieg freudig begrüßt, da sie das umstürzlerische Potential erkannten. Im Gegensatz zu vielen Psychiatern, die von "geistiger Vergewaltigung", von "modernen Foltermethoden" für Kranke sprachen.
Deutung als rationale und kalte Psychologie
Nach dem 1. Weltkrieg wurde das Unbewusste speziell in der Kunst, Literatur und für Filmemacher zum wichtigsten Thema überhaupt. Auch gab es eine Auseinandersetzung unter Psychiatern, wie den 600.000 kriegstraumatisierten Soldaten geholfen werden könnte.
In den 1930er-Jahren wird die Psychoanalyse zunehmend als rationale und kalte Psychologie verdammt, als Gegensatz zum "bürgerlichen Ich", der romantischen deutschen Seele, die in der völkischen Auffassung von "Seele und Rasse" mündete, ja als jüdische Gefahr. Es entstand die deutsche "Tiefenpsychologie", eine Mischung der Ansätze Alfred Adlers, C.G. Jungs und Sigmund Freuds. Nach dem 2. Weltkrieg schließlich drehte sich die Rezeption in ihr Gegenteil:
"Waren in den 30er-Jahren bürgerliche Werte wie Selbstkontrolle, Bildung und Mäßigkeit für viele Kritiker Freuds nicht mehr zeitgemäß, sah es nach dem Krieg genau umgekehrt aus: Jetzt machte man die Psychoanalyse für den Verlust der Selbstkontrolle mitverantwortlich… (so habe) das autonom wirkende Unbewusste dazu beigetragen, das Bild vom freien, selbstbestimmten Menschen zu untergraben. Übrig geblieben ist ein Wesen voller Triebe, Gelüste und Begierden, das sich mangels fester Werte gegen die totalitären Gefahren nicht habe wehren können."
Von Psychoanalyse geprägte Reformen
Auch die 1960er-Jahren waren von psychoanalytischem Gedankengut beherrscht: Die Studenten- und Kinderladenbewegung, die Auseinandersetzung um die Einflüsse der Kindheit auf Straftäter und daraus resultierend die Reformen der Justiz, Gefängnisse sowie Bildungseinrichtungen und, erst sehr spät, die der Psychiatrien.
Kauders endet mit der Beschreibung des ersten Kongresses der Internationalen Psychoanalytiker-Vereinigung auf deutschem Boden nach dem Krieg im Jahr 1985 in Hamburg und der erstaunlich spät beginnenden Aufarbeitung des Faschismus bei den Analytikern selbst. – Einmalig auf der Welt ist jedoch, dass die Psychoanalyse als Heilmethode in das Krankenkassensystem aufgenommen wurde!
Und ein Gewinn ist, dass da kein Insider, kein Schüler alter Meister, sondern ein Außenstehender, ein Historiker schreibt und auch für Laien eine Fundgrube geschaffen hat - an neuen, überraschenden Perspektiven zur Ideengeschichte des 20.Jahrhunderts.

Anthony D. Kauders: Der Freud-Komplex
Berlin-Verlag, 2014
400 Seiten, 23,99 Euro

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