Prozess um Krankenpflegermorde

Vom Verlust der "kollegialen Achtsamkeit"

Hände, die eine Spritze aufziehen.
Die Spritze gehört zum Klinikalltag. Im Fall des erneut angeklagten, ehemaligen Krankenpflegers Niels H. zeigt sich die Misere des Gesundheitssystems, meint der Mediziner Karl. H. Beine. © dpa/picture alliance/Klaus Rose
Karl H. Beine im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 23.06.2016
Der ehemalige Krankenpfleger Niels H. steht in Verdacht, bis zu 200 Menschen getötet zu haben. Die mögliche Mordserie schockiert, doch in den Kliniken fehle der Wille zur Aufklärung, kritisiert der Mediziner Karl H. Beine.
Es ist die wahrscheinlich größte Mordserie in der Geschichte der Bundesrepublik. Der Ex-Pfleger Niels H. - wegen zwei Morden, zwei Mordversuchen und gefährlicher Körperverletzung bereits verurteilt – steht nun erneut vor Gericht. Er soll weit mehr Menschen in den Kliniken Oldenburg und vermutlich Delmenhorst getötet haben.
Allesamt waren Patienten und wurden mit ihm dort zur Verfügung stehenden Medikamenten ermordet. Von bis zu 200 Tötungen ist inzwischen die Rede, nachdem die Polizei 99 Verstorbene exhumiert hatte und bei 27 von ihnen ein Medikament gefunden hat, das zu ihrem Tod geführt haben könnte.
Wie konnte diese Taten so lange unentdeckt bleiben? In diesem Fall seien die persönlichen Eigenschaften eines Menschen mit einer bestimmten Arbeitsumgebung zusammengetroffen, sagte Karl H. Beine, Chefarzt am St. Marien-Hospital Hamm und Professur für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke:
Es sei nicht ungewöhnlich, dass es häufig lange Latenzzeiten zwischen ersten Verdächtigungen und der späteren Verhaftung eines Täters gebe. Man brauche außerdem Mut, um Vorgesetzte über einen möglicherweise verdächtigen Kollegen zu informieren. Dann vergehe oft viel Zeit, bis die Vorgesetzten reagierten.
"Das, was man beobachten kann, ist weniger ein Aufklärungswille in den Krankenhäusern als vielmehr Aufdeckungsbarrieren. Weil die einzelnen Häuser natürlich zu Recht annehmen, dass das für ihre eigene Einrichtung der GAU ist, wenn so etwas publiziert wird. Dann ist es so, dass man versucht, eine suspekte Person loszuwerden, wegzuloben. Und der Schaden, der für das Gesundheitswesen insgesamt eintritt, ist dann am Ende sehr viel größer als wenn man konsequent vor Ort aufgeklärt und die Polizei informiert hätte."

Kritik an Kosten- und Zeitdruck in den Kliniken

Beine beklagte ferner den Kosten- und Zeitdruck, unter dem Kliniken heute stünden:
"Die grundsätzliche Notwendigkeit, kranke Menschen zu beobachten und auch kollegial achtsam zu sein, ist eine Tugend, die in Verruf geraten ist. Sie ist eine Tätigkeit, die schlecht oder gar nicht vergütet wird. Von daher ist es eine Arbeitsatmosphäre im Gesundheitswesen, in den Kliniken, die so etwas wie kollegiale Achtsamkeit erschwert und die einzelnen Mitarbeiter geradezu zwingt, sich auf ihre jeweilige Kernaufgaben zu konzentrieren und nicht rechts und nicht links zu gucken."

"Vorgesetzte haben wenig couragiert reagiert"

Die Vorgesetzten der Klinken, die von den Tötungsserien betroffen seien, hätten "wenig couragiert reagiert", kritisierte Beine:
"Sie haben es an Aufklärungswillen vermissen lassen. Und am Ende kommt hinzu, dass die Kontrollmechanismen in den Krankenhäusern, die automatisierten Kontrollmechanismen im Wesentlichen kostengetriggert sind. Es ist kein Zufall, das in Oldenburg oder Delmenhorst die Tötungen geschahen mit einem Medikament, das billig ist. Und das dem zu Folge der gestiegene Verbrauch nicht auffiel. Wäre das ein Medikament gewesen, das teuer gewesen wäre, dann wäre es sicher aufgefallen."

Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Es ist die wahrscheinlich größte Mordserie in der Geschichte der Bundesrepublik. Der Ex-Pfleger Niels H., wegen zwei Morden, zwei Mordversuchen und gefährlicher Körperverletzung bereits verurteilt, steht erneut vor Gericht, weil sich herausgestellt hat, dass er wohl weit mehr Menschen in den Kliniken Oldenburg und vermutlich auch Delmenhorst getötet hat. Allesamt waren Patienten und wurden mit ihm dort zur Verfügung stehenden Medikamenten ermordet.
Die Polizei hat jetzt 99 Verstorbene aus dieser Klinik exhumiert und bei 27 von ihnen ein Medikament gefunden, das zu ihrem Tod geführt haben könnte. Niels H. war nicht der erste und einzige Pfleger, der Patienten getötet hat, aber man fragt sich, wie es zu so einer dramatisch großen Serie kommen konnte und wie solche Morde im Krankenhaus unentdeckt blieben. Das will ich auch von Karl Beine erfahren. Er ist Chefarzt am St.-Marienhospital in Hamm und Professor für Psychiatrie und Psychotherapie in Witten-Herdecke. Er befasst sich seit Jahren mit diesem Thema und hat auch ein Buch darüber geschrieben. Guten Morgen!
Karl Beine: Guten Morgen!
von Billerbeck: Wie kann das sein, dass ein Mann, ein Pfleger über Jahre und gleich in zwei Kliniken so viele Menschen tötet, ohne dass es auffällt?
Beine: Das ist eine fast zu schwierige Frage, als dass ich sie so knapp beantworten könnte. Es ist so, dass immer persönliche Eigenschaften eines Menschen zusammenpassen, in Anführungszeichen zusammenpassen müssen mit Arbeitsumgebungen, dass eine solche Serie über eine so lange Zeit unentdeckt bleiben kann.
Es ist aber nichts Außergewöhnliches. Die sogenannten Latenzzeiten zwischen ersten internen Verdächtigungen und der Verhaftung des späteren Täters, der ja zunächst mal ein Kollege ist, sind sehr lange. Sie reichen von bis zu zehn Jahren in den USA in einzelnen Fällen bis hin zu sechs Jahren oder aber auch in Einzelfällen drei bis vier Monate. Es ist sehr unterschiedlich.
von Billerbeck: Liegt es daran, dass sich ein Mediziner oder ein Pfleger, eine Ärztin, ein Arzt einfach nicht vorstellen kann, dass so ein Täter, dass ein Kollege so was macht?

Mangelnde Aufklärung schadet dem Gesundheitssystem

Beine: Das ist eine Facette. Es braucht einiges, bevor ich einem Kollegen, mit dem ich unter Umständen jahrelang gearbeitet habe, zutraue, dass er Patienten tötet. Dann braucht es eine Zeit, bis ich den Mut fasse, meinem Vorgesetzten diese unglaubliche Beobachtung mitzuteilen. Und dann braucht es eine Zeit, bis die Vorgesetzten adäquat reagieren.
Und das, was man beobachten kann, ist weniger ein Aufklärungswille in den Krankenhäusern, als vielmehr Aufdeckungsbarrieren, weil die einzelnen Häuser natürlich zu Recht annehmen, dass dies für ihre eigene Einrichtung der GAU ist, wenn so etwas publiziert wird. Und dann ist es so, dass man versucht, eine suspekte Person, loszuwerden, wegzuloben. Und der Schaden, der für das Gesundheitswesen insgesamt eintritt, ist dann am Ende sehr viel größer, als wenn man konsequent vor Ort aufgeklärt hätte und die Polizei informiert hätte.
von Billerbeck: Man fragt sich natürlich, wenn man hört, dass das die möglicherweise größte Mordserie der Bundesrepublik gewesen ist, über die wir hier sprechen: Warum tötet ein Pfleger wie dieser Niels H.? Warum macht er das? Warum tötet er Menschen, die ihm doch anvertraut sind?
Beine: Bei Niels H. ist es so gewesen, dass er durchgängig gesagt hat, dass er den "Kick" geliebt habe im Zusammenhang damit, dass er Menschen, Schutzbefohlenen Medikamente gegeben hat, die zu lebensbedrohlichen Komplikationen führten, Reanimationen erforderlich machten, und er sich anschließend – er muss wohl ein ziemlich perfekter Intensivpfleger gewesen sein –, um sich anschließend als Retter zu präsentieren.
Das, was den Tätern insgesamt gemein ist, ist ein außerordentlich schwach ausgeprägtes Selbstwertgefühl. Was ihnen allen gemein ist, ist das angewiesen sein auf Anerkennung von außen, auf Bestätigung. Und was ihnen gemeinsam ist, ist die Unfähigkeit, dann, wenn die Mittel der Medizin versagen, die Menschen zu begleiten, sozusagen Beistand zu leisten, also im tiefen Sinne des Wortes mitzuleiden, präsent zu sein und zu begleiten.
Und in dieser Situation kommen Pfleger dazu - kommen übrigens nicht nur Pfleger dazu, sondern kommen auch andere Berufsgruppen dazu -, die für sie unerträglichen Situationen aufzulösen, indem sie entweder Patienten töten oder aber lebensgefährliche Situationen herbeiführen, in jedem Fall aber auf jeden Fall aus der unerträglichen Situation befreien.

Vom Verlust der "Tugend der kollegialen Achtsamkeit"

von Billerbeck: In dem Fall, wenn ich das richtig gelesen habe, war es aber weniger Mitleid, sondern doch mehr dieses Gefühl immer wieder erleben zu wollen, einen Patienten in Lebensgefahr zu bringen, um ihn dann zu retten und selbst als Retter dazustehen. Warum merkt eine Klinik das nicht, oder wenn man es dort merkt, warum verschiebt man die Entscheidung dann?
Beine: Man merkt es nicht. Man will es nicht merken aus vielen Gründen. Zum einen existiert in allen Kliniken ein immenser Kosten- und Zeitdruck. Die grundsätzliche Notwendigkeit, kranke Menschen zu beobachten und auch kollegial achtsam zu sein, ist eine Tugend, die in Verruf geraten ist, ist eine Tätigkeit, die nicht oder schlecht oder die nicht vergütet wird.
Von daher ist es eine Arbeitsatmosphäre im Gesundheitswesen, in den Kliniken, die so etwas wie kollegiale Achtsamkeit erschwert und die einzelnen Mitarbeiter geradezu zwingt dazu, sich zu konzentrieren auf die jeweiligen Kernaufgaben und nicht rechts und nicht links zu gucken und möglichst fehlerfrei die eigene Arbeit zu erledigen.

Versagen der Kontrollmechanismen in den Klinikern

Und darüber hinaus ist es so, dass die Vorgesetzten an diesen Stellen, in denen die Tötungsserien geschehen sind, wenig couragiert reagiert haben, es an Aufklärungswillen haben vermissen lassen. Und am Ende kommt hinzu, dass die Kontrollmechanismen in den Krankenhäusern, die automatisierten Kontrollmechanismen im Wesentlichen kostengetriggert sind.
Es ist kein Zufall, dass in Oldenburg oder Delmenhorst die Tötungen geschahen mit einem Medikament, das billig ist und dass demzufolge der gestiegene Verbrauch nicht auffiel. Wäre das ein Medikament gewesen, das teuer gewesen wäre, wäre es sicher aufgefallen.
von Billerbeck: Der Psychiater Karl Beine über die Gründe für Tötungen an Patienten durch einen Pfleger und die Möglichkeiten, solche Morde zu verhindern. Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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