Proustsches Epochengemälde

05.04.2011
Ein Œuvre der Obsession, ein Œuvre ohne Parallelen. Peter Kurzecks 1979 einsetzendes Werk hat eine Dimension erreicht, die keinen Vergleich mit den bedeutendsten europäischen Erzählern zu scheuen braucht. 1997 machte sich Kurzeck mit "Übers Eis" an eine autobiografische, "Das alte Jahrhundert" überschriebene Chronik, die sich ausweitete und zwölf Bände umfassen soll.
Dieses gigantische Projekt ist mit den über 1000 Seiten von "Vorabend" – die Kurzeck im Herbst 2010 freundlichen Helfern im Literaturhaus Frankfurt in den PC diktierte – beim fünften Teil angelangt und nimmt, wieder einmal, seinen Anfang im Herbst 1983.

Der von Existenzsorgen geplagte Ich-Erzähler Peter lebt mit Freundin Sibylle und der vierjährigen Tochter Carina im Frankfurter Stadtteil Bockenheim und schreibt unbeirrbar an seinen Romanen, die aufs große Ganze zielen. "Die ganze Gegend erzählen, die Zeit" – so lautet das selbstbewusste Motto, das Kurzeck mit raffinierten Erzähl- und Wiederholungsstrategien Schritt für Schritt realisiert.

Die scheiternde Beziehung zweier nach Südfrankreich ausgewanderter Freunde – Jürgen und Pascale – bietet den Anlass, eine Zeitreise in die 60er- und 70er-Jahre zu unternehmen, mitten hinein in die Provinz zwischen Marburg und Gießen. Der Erzähler erinnert sich daran, wie man 1982 die Wochenenden dazu nutzte, Frankfurt den Rücken zu kehren und die Freunde in Eschersheim zu besuchen. Dort, so der Rahmen, hebt Peter zu einem endlos scheinenden Nachmittagsmonolog an, der in immer neuen Spiralen die Vergangenheit einkreist.

Es geht um eine im Nachhinein eher unheilvoll wirkende Epoche, als die Segnungen des Wirtschaftswunders jeden Landstrich erreichten und der ökonomische Fortschritt als ein einziges Glück erschien. In wunderbaren Detailbildern hält Peter Kurzeck die Mentalität jener Jahre und die kleinsten vom Kapitalismus fortgefegten Dorfwinkel und Feldwege fest.

Es ist die Ära eines folgenschweren Umbruchs, als aus holprigen Chausseen Bundesstraßen werden, sich die ersten Supermärkte auf den bald nicht mehr grünen Wiesen ausbreiten, als die Schwaden der Eisenhüttenwerke die Fassaden in ein Dauergrau tauchen, die Butter noch "gute Butter" genannt wird und Kommunen protzige Schwimmbäder bauen, "damit die Bürgermeister wiedergewählt werden".

Die Vielzahl der aneinandergereihten, immer wieder neu variierten Erinnerungspartikel erfüllt keinen Selbstzweck. Das eigene Seelenleben hintanstellend, setzt Peter Kurzeck das Vergangene und das fast Vergessene neu zusammen, malt Geschichten aus, lässt sich vom Alltag seines Schwagers inspirieren und schreibt auf diese Weise "Umweggeschichten", die ihr Ziel, die Totalität, nie erreichen und deshalb permanent neu einsetzen müssen.

Der unentwegte Beobachter Kurzeck pirscht sich an die Angelpunkte der bundesrepublikanischen Alltagsgeschichte heran, die das Verhältnis der Menschen zu ihrer Herkunft und zu ihren Traditionen von Grund auf veränderten. Bedürfnisse werden mit einem Mal künstlich geschürt, dem wachsenden Bruttosozialprodukt zuliebe. Mal demonstriert Kurzeck den Wahnwitz am Straßenbau; mal erzählt er davon, wie die Lollarer plötzlich zu joggen beginnen, ihr Obst nur noch selten in Weckgläser füllen, sich mit 5-Liter-Bierdosen als Zapfkönige sehen und "Haussprechanlagen" anbringen, obwohl sich dieses Wortungetüm kaum im mittelhessischen Dialekt wiedergeben lässt.

Ihre Bedeutung erlangt diese Chronik nicht allein durch ihren dokumentarischen Wert. Sie erwächst vor allem aus der ganz und gar unverwechselbaren Sprache, die ihr Autor für seine Zwecke geschaffen hat. Meisterhaft überbrückt er in seiner Suada die Kluft zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit, baut denkbar einfach wirkende Sätze, die oft abbrechen oder nur aus einzelnen Wörtern bestehen. Pointilistisch entsteht so ein gleichsam proustsches Epochengemälde. Wer, wenn nicht Peter Kurzeck, hätte es verdient, den nächsten Georg-Büchner-Preis zu bekommen?

Besprochen von Rainer Moritz

Peter Kurzeck: Vorabend
Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main 2011
1017 Seiten, 39,80 Euro