Proteste in Ungarn

Was die Ungarn auf die Straße treibt

Menschen in Budapest protestieren mit ihren Smartphones gegen die geplante Internet-Steuer.
Menschen in Budapest protestieren mit ihren Smartphones gegen die geplante Internet-Steuer. © dpa / picture alliance / Laszlo Beliczay
29.10.2014
Für die ungarische Schriftstellerin Noémi Kiss sind die Demonstrationen gegen die Internetsteuer nur der Anfang einer Protestwelle gegen Ministerpräsident Viktor Orban. Endlich melde sich die Zivilgesellschaft zu Wort.
Dieter Kassel: Heute ist Weltinternettag. Das hat aber die ungarische Regierung wahrscheinlich gar nicht bedacht, als sie ausgerechnet einen Tag vorher, nämlich gestern, erneut über eine geplante Internetsteuer beriet. In Ungarn soll künftig jeder Internetnutzer umgerechnet ungefähr 49 Cent pro übertragenem Gigabyte zahlen. Das klingt noch ein bisschen schwer verständlich. Theoretisch wäre das sehr viel Geld, praktisch hat die Regierung gesagt, sie will auch eine Kappungsgrenze einführen, sodass normale Privatnutzer so umgerechnet zwei bis drei Euro im Monat höchstens zahlen würden. Aber es hat nichts genützt, trotz dieser Information gab es auch gestern wieder – es gab schon am Wochenende solche Proteste – auch gestern wieder heftige Proteste gegen diese geplante Internetsteuer in Ungarn. Aus Budapest berichtet unsere Korrespondentin Karla Engelhard.
Karla Engelhard berichtete aus Budapest. Dort lebt die ungarische Schriftstellerin Noémi Kiss, die gestern auch mit dabei war bei den Demonstrationen und die jetzt am Telefon ist. Schönen guten Morgen, Frau Kiss!
Noémi Kiss: Guten Morgen!
Kassel: Warum sind Sie gestern auch hingegangen zu diesen Demonstrationen? Ging es Ihnen wirklich nur darum, zu verhindern, dass Ihr Internet teurer wird?
Kiss: Ja. Ich finde, in Ungarn ist das Internet sehr teuer. Es sind fast sieben bis acht Prozent eines Mindestlohns, also das ist nicht wenig. Andererseits war das natürlich kein Protest nur gegen die Internetsteuer. Es war ein symbolischer Protest. Und am Sonntag waren auch mehrere tausend, aber ich denke, gestern waren laut Reuters 100.000 – also, es waren sehr, sehr viele Leute da, sehr viele junge Leute. Und ich glaube, bei der nächsten Demonstration werden es noch mehr. Es ist einfach ein Protest – es ist kein einfacher Protest, aber es ist ein Protest gegen unseren Ministerpräsidenten, und nicht ohne Weiteres endete der Protest damit, dass die jungen Leute die Europäische Union gefordert haben und auch die Fahne am Parlament ausgehängt haben. Es war ein Protest gegen die Internetsteuer, aber es war auch ein sehr wichtiger Protest gegen die Politik der Regierung in Ungarn.
Kassel: Wie haben Sie denn gestern die Atmosphäre bei den Demonstrationen empfunden? War das eher wirklich das Gefühl, wir können was ändern, oder war es auch ein bisschen eine verzweifelte Atmosphäre?
Staatliche Medien machen Propaganda für Regierung
Kiss: Nein. Es war eine sehr feine Demonstration, junge Leute haben das organisiert ohne Parteien. Sie haben die Parteien gebeten, sich fernzuhalten. Alle Menschen waren privat dort mit Gesicht und eigenen Wörtern und mit ganz eigenen, wenn man so will, zivilpolitischen Forderungen. Und ich finde das einfach toll, dass die Ungarn wieder den Mut haben zu demonstrieren, weil Viktor Orbán mag keine Demonstrationen. Die Polizei war sehr stark dort, überall habe ich Polizisten gesehen. Ich habe auch am Anfang etwas Angst gekriegt, weil ich mit meinen zwei Kindern da war. Aber es waren auch sehr viele Familien dort, auch junge Leute, 20, 30 Jahre alte Leute, und ich fand das einfach sehr fein und nett. Es gab keine Aggressivität dort.
Kassel: Wie hat sich die Polizei denn verhalten?
Kiss: Sie haben natürlich die Medien geschützt. Es ist wirklich lächerlich, aber Sie haben staatliche Medien, das ist sozusagen die Propaganda der Regierung, und die Polizei hatte die Aufgabe, diese Medienleute zu schützen, damit die Wörter von den Demonstranten, dieser Protest gegen Orbán nicht klar wird im Fernsehen. Es war wirklich fast lächerlich, weil man kann im Internet gleich alles senden, und die Leute wissen jetzt alle im ganzen Land, worum es gestern Abend ging. Es ist ganz klar.
Kassel: Haben Sie denn gestern Abend zufällig noch die Nachrichten des Staatsfernsehens gesehen? Wurde das da alles dann komplett anders dargestellt?
Kiss: Wissen Sie, ich habe das staatliche Fernsehen nicht mehr zu Hause. Ich zahle nicht mehr dafür. Ich habe nur Internet und ich lese, und ich glaube, ganz viele Leute in Ungarn in meiner Generation, auch ältere Leute, die Internetzugang haben, lesen und gucken nicht mehr die staatlichen Medien, weil das ist wirklich die Propaganda der Regierung. Und ich habe nur im Internet bis Mitternacht verfolgt, was passiert ist, auch Bilder gesehen, auch die Sätze, die Wörter, die die Demonstranten gesagt haben – also so habe ich mich informiert.
Kassel: Nun haben Sie gesagt, die jungen Menschen, die Sie auch erlebt haben bei der Demonstration, sind die Regierung Orbán, sind vieles leid. Nun gab es andererseits erst im April vor einem halben Jahr Parlamentswahlen in Ungarn, da hat die Fidesz wieder eine überwältigende Mehrheit errungen. Sie stellt jetzt 133 der 199 Abgeordneten im Parlament. Ist es nicht vielleicht auch ein falscher Eindruck, wenn man diese Demonstranten sieht in den großen Städten? Ist nicht die Mehrheit der Ungarn immer noch für diese Regierung?
Orbán macht eine "Fußball-Politik"
Kiss: Ja, es ist eine sehr komplexe politische Frage. Erstens ist die Fidesz populistisch, und natürlich mit der Internetsteuer, sie zählen immer auf die Wähler aus den älteren Generationen. Die älteren Generationen haben nicht unbedingt einen Internetzugang. Zum Beispiel mein Vater macht kein Internet, und es gibt immer noch eine Generation, die sich dafür nicht interessiert. Und damit ist natürlich auch – es war wirklich eine Demonstration eher von jungen Leuten. Und andererseits ist es eine Wahl, wo die Gegenparteien, die sogenannten alternativen Parteien nicht stark genug sind. Sie sind zerstückelt. Wir hatten eine Regierung, eine linke Regierung vor Viktor Orbáns Regierung, und das ist eine sehr schwache, andere Regierung gewesen. Und die Wähler wählen ihn, weil er eine sehr populistische Politik macht. Aber ich glaube, wenn man die richtigen Statistiken sieht, dass er immer und immer weniger Stimmen hat in Ungarn. Und ich glaube, wenn er das weiterführt, diese Politik gegen die Europäische Union und auch gegen die jungen Leute und Medienfreiheit, und überhaupt, wie er regiert, dann kann er nicht mehr so lange an der Macht bleiben. Das ist, glaube ich, jetzt auch klar geworden.
Kassel: Bedeutet das für Sie auch, Sie werden weiter demonstrieren?
Kiss: Ich glaube, schon. Ich glaube, schon, und es wird immer mehr, und es werden immer mehr und mehr Leute auf die Straße gehen, weil das ist die einzige Möglichkeit, dass die Zivilgesellschaft sich meldet und eigene Meinungen sagt durch das Internet, durch die Straße – dass sie immer wieder mehr Druck macht gegen Viktor Orbán. Und es war auch sehr klar, dass es gegen ihn war. Weil er immer sagt, er ist ein Demokrat, er diskutiert mit der Gesellschaft. Aber er diskutiert gar nicht mehr, seit Jahren diskutiert er gar nicht, über Kulturpolitik, über Außenpolitik, über Denkmäler zum Beispiel in der Innenstadt hat er überhaupt nicht diskutiert. Und die Ungarn sind nicht daran gewöhnt, weil, ich glaube, es gab und es gibt eine demokratische, eine sehr breite demokratische, bürgerliche Gesellschaft, die das nicht erlauben kann. Und was mich immer wieder traurig macht, diese Fußball-Politik von Orbán, diese ganz andere Art von Politik, was eigentlich nicht in der ungarischen Tradition ist. Wo Kultur und Bildung gar nicht mehr zählen, sondern einfach nur eine Machtpolitik in diesen Bereichen stattfindet. Auch im Familienbereich, auch in den Schulen – und das wäre meine Kritik, dass die Zivilgesellschaft jetzt unterdrückt ist, und deshalb meldet sich auch die Zivilgesellschaft mit dieser Internetsteuer, was eigentlich wichtig ist, aber auch nur ein symbolisches Ding ist.
Kassel: Sagt die in Budapest lebende ungarische Autorin Noémi Kiss über die Demonstrationen in Budapest. Frau Kiss, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Kiss: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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