Protestantismus

Außenseiter der Reformation

Büsten des Reformators Johannes Calvin im Internationalen Museum der Reformation in Genève in der Schweiz.
Johannes Calvin kennt jeder. Warum aber geriet der Reformator Sebastian Castellio in Vergessenheit? © picture-alliance/ dpa/dpaweb - Keystone Martial Trezzini
Von Christoph Fleischmann · 01.11.2015
Es waren nicht nur große Männer wie Martin Luther oder Johannes Calvin, die die katholische Kirche reformierten. Viele Wegbereiter gerieten über die Jahrhunderte in Vergessenheit - so wie Sebastian Castellio. Dabei waren seine Ideen sehr modern.
"Dieses Geschehen hat viele fromme Menschen entsetzt und den Skandal der Skandale ausgelöst, der wohl kaum jemals in Vergessenheit geraten wird."
Eine anonyme Flugschrift aus Basel, geschrieben kurz nach der Verbrennung Michael Servets am 27. Oktober 1553 in Genf.
"Denn die Frommen erheben bei dieser Tat viele schwere Vorwürfe: Erstens weil ein Mensch in Genf getötet wurde wegen seines Glaubens. […] Zweitens weil er mit Hilfe Calvins getötet wurde."
Genf war die Stadt von Johannes Calvin. Er war dort der führende Geistliche; er hatte durch einen Schüler beim Rat der Stadt Klage gegen den spanischen Arzt Michael Servet eingereicht – wegen Ketzerei, weil Servet die kirchliche Lehre von der Trinität Gottes infrage gestellt hatte. Im 250 Kilometer entfernten Basel gab es Protestanten, die das Vorgehen Calvins empörte: Einer von ihnen war der ehemalige Calvin-Mitarbeiter Sebastian Castellio, inzwischen Griechisch-Professor in Basel. Der Historiker Uwe Plath hat zum 500. Geburtstag von Castellio in diesem Jahr eines seiner Hauptwerke erstmals ins Deutsche übersetzt:
"Das Unverständnis hat eine Ursache darin, dass man überhaupt nicht verstehen kann, wie man als Christ und auch als Reformator gegen einen in einer dogmatischen Frage andersdenkenden Menschen vorgehen kann, das ist das Unverständnis. Und das ist vorwiegend von Menschen artikuliert worden, die die katholische Kirche wegen ihres evangelischen Glaubens verlassen haben."
Europa wurde fundamental erschüttert
Die Protestanten, die weniger Jahre zuvor noch das Recht auf Glaubensfreiheit gegenüber dem Papst eingefordert hatten, waren von Verfolgten zu Verfolgern geworden. Die Amsterdamer Kirchenhistorikerin Mirjam van Veen, die eine Biografie über Castellio geschrieben hat, erklärt die fundamentale Erschütterung, die die Reformation in Europa verursacht hat:
"Bis dann hatte die katholische Kirche ein religiöses Monopol, und religiöse Diversität hat es bis dann eigentlich nicht gegeben. Und im 16. Jahrhundert ist diese Einheit zerstört worden und ich glaube, dass das die Leute im 16. Jahrhundert auch schockiert hat, weil die Gläubigen des 16. Jahrhunderts völlig davon überzeugt waren, dass man, wenn man der falschen Kirche angehörte, auch den Himmel vergessen könnte."
Aber nicht nur der Himmel war mit dem falschen Glauben in Gefahr, auch die Einheit des Gemeinwesens schien bedroht:
"Man konnte sich nicht denken, dass eine Gesellschaft ohne Einheit, ohne kirchliche Einheit bestehen könnte. Und man hat wirklich die Idee gehabt, dass ohne die kirchliche Einheit die Gesellschaft völlig in Chaos und Unruhe gestürzt werden musste."
"Also wird die fromme Obrigkeit Wächterin sein über die Lehre der Frömmigkeit ..."
... forderte der Reformator Calvin ...
"... nicht nur um diejenigen zum Glauben zu zwingen, die ihn weniger freiwillig annehmen wollen, sondern auch damit Christus nicht aus ihrem Herrschaftsgebiet, in welchem sie durch seine Gnade regieren, verbannt wird, damit sein heiliger Name nicht ungestraft verspottet wird."
Mirjam van Veen: "Also Europa hat sich bis dahin verstanden als der Leib Christi, und diese Idee wurde zerstört. Der Umbruch bei Castellio ist, dass er sagt: Nein, die Lösung ist nicht, dass wir eine neue Einheit forcieren, aber dass wir Diversität akzeptieren. Seine Zeitgenossen haben versucht, eine neue Einheit zu schaffen. Aber er war davon überzeugt, dass man jedenfalls temporär Diversität akzeptieren sollte. Und das war neu."
Verschiedenheit zu akzeptieren bedeutet, dass die Obrigkeit nicht mehr über Moral und Lehre zu wachen hat.
Castellio: "Das Schwert wird für das Reich Christi nicht gebraucht, außer um Christus und die Seinen zu töten."
Christliches Leben war Castellio am Wichtigsten
Wenn die Fürsten und Magistrate einen Glauben für ihr Gebiet vorschrieben, blieb Andersgläubigen oft nur die Möglichkeit auszuwandern. Für Castellio eine widersinnige Situation:
"Unter allen Sekten (deren es heutzutage unzählige gibt) gibt es kaum eine, die nicht die anderen für Ketzer hält, sodass du, wenn du in der einen Stadt oder Gegend ein Rechtgläubiger bist, in der nächsten als Ketzer giltst. Wer heute leben will, muss also nachgerade so viele Glaubensüberzeugungen und Religionen haben, wie es Gemeinwesen oder Sekten gibt. Ihm wird es ergehen wie einem Reisenden, der durch die Lande zieht: Immer wieder wird er sein Geld wechseln müssen; denn welches hier gültig ist, wird dort nicht angenommen – es sei denn, es wäre aus Gold. Denn dieses behält überall, gleich welcher Prägung, seine Gültigkeit."
Castellio wiederholte immer wieder, was für ihn dieses Gold ist, das in allen christlichen Gemeinwesen Bestand haben sollte.
Uwe Plath: "Diese goldene Münze definiert er selbst als Glaube an Gott, Vater, Sohn und auch an den Heiligen Geist. Und er fügt hinzu, dass zu dieser goldenen Münze in gewisser Weise auch gehören müsse, die Beachtung der Gebote der Frömmigkeit. Nachfolge Christi zu leben, wie uns Christus das im Neuen Testament vorgeschrieben hat, vor allem im Gedanken der Nächstenliebe."
Ein christliches Leben war Castellio wichtiger als die richtige Lehre; wegen "dunkler Fragen" wie der Trinität Gottes, der Erwählung der Menschen oder der Rechtfertigung sollten Menschen nicht verketzert werden – diese Fragen seien nämlich nicht eindeutig zu lösen.
Castellio: "Die Frage lautet nicht, ob die heiligen Schriften wahr sind, sondern wie man sie auffassen soll. Alle bekennen, dass sie wahr seien, doch um ihren Sinn wird erbittert gestritten. Dass sie aber mehrdeutig sind, das verdeutlichen gerade jene Kontroversen, von denen wir hier sprechen. Denn sicherlich ist der versammelte Verstand all der gelehrten Männer nicht so blind, dass sie sich schon seit so vielen Jahrhunderten über eindeutige Frage streiten müssten."
Der Basler Gelehrte Sebastian Castellio war einer der konsequentesten Streiter für religiöse Toleranz in der Zeit der Reformation. Drei seiner Hauptwerke hat der Essener Alcorde-Verlag nun in hervorragenden Editionen auf deutsch herausgebracht. Für Uwe Plath steht fest, dass Castellio im Rahmen des Reformationsgedächtnisses noch viel mehr Beachtung verdient hätte:
"Ich glaube schon, dass er Gedanken der Religionsfreiheit und der Toleranz gegenüber Andersdenkenden, die hat er leidenschaftlich formuliert in seinen verschiedenen Werken."
Castellio: "Einen Menschen töten, heißt nicht, eine Lehre verteidigen, sondern einen Menschen töten.Als die Genfer Servet getötet haben, haben sie keine Lehre verteidigt, sondern einen Menschen getötet."
Literaturtipps:

Sebastian Castellio: Das Manifest der Toleranz. Über Ketzer und ob man sie verfolgen soll

Aus dem Lateinischen von Werner Stingl
Alcorde Verlag, Essen 2013

Sebastian Castellio: Gegen Calvin
Aus dem Lateinischen von Uwe Plath
Alcorde Verlag, Essen 2015

Sebastian Castellio: Die Kunst des Zweifelns und Glaubens, des Nichtwissens und Wissens
Aus dem Lateinischen von Werner Stingl
Alcorde Verlag, Essen 2015

Mirjam van Veen: Die Freiheit des Denkens. Sebastian Castellio - Wegbereiter der Toleranz 1515-1563. Eine Biografie.
Alcorde Verlag, Essen 2015
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