Prostitution

Die Spur der 40.000

Eine Domina in schwarzer Lederwäsche und mit Lederpeitsche, aufgenommen am 29.11.2002 in Helsinki
Die Zahl der Prostituierten hat keine eindeutige Quelle. Doch bis heute wird sie genannt. © picture alliance / dpa / Lehtikuva Jussi Nukari
Von Janosch Delcker · 04.09.2014
Während der Fußball-WM 2006 wurden zehntausende Sex-Arbeiterinnen aus Osteuropa nach Deutschland geschleust. Darüber berichteten alle seriösen Medien – von "Spiegel" bis "Zeit". Doch stimmt diese Zahl? Die Geschichte eines Gerüchts.
Babette Rohner: "Es gab keine Quelle. Aber es war in Gang gesetzt."
Hans-Joachim Neubauer: "Man sagt, dass sich das Gerücht ausbreitet wie eine Seuche."
Ulrike Hauffe: "Es gab an keiner Stelle die Möglichkeit, das wieder zurückzunehmen."
Sanja Milivojevic: "These voices, they were just never questioned."
John Miller: "I have expressed my concern directly to the German ambassador."
Andrea Fischer: "Wir Menschen sind Gesellschaftstiere im wahrsten Sinne des Wortes."
In dieser Sendung geht es ums Hörensagen. Es geht um Gerüchte und um Klatsch. Und es geht um die Geschichte eines Phantoms: Um 40.000 Menschen, über die gesprochen wurde, die es aber nie gab. Es ist die Suche nach dem Ursprung eines Gerüchts. Und sie beginnt vor über neun Jahren.
Kapitel 1 - Die Huren, der Sex und die Falschmeldung
2005 – Deutschland im WM-Fieber. Die Welt soll "zu Gast sein bei Freunden", hat man sich vorgenommen. Doch dann tauchen Zeitungsberichte auf, die nicht passen wollen zum deutschen Sommermärchen.
"Im Zuge der WM werden 40.000 ausländische Prostituierte erwartet."
Die Wochenzeitung Die Zeit am 8. Juli 2005.
"Angeblich sollen sich zur WM bis zu 40.000 Huren aus Osteuropa auf den Weg nach Deutschland machen."
Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel am 28. November 2005.
"30.000 bis 40.000 Zwangsprostituierte, so schätzt der Deutsche Städtetag, werden zur Fußball-Weltmeisterschaft vor allem aus den osteuropäischen Staaten nach Deutschland geschleust, um den Fans zu Diensten zu sein."
Die feministische Zeitschrift Emma in ihrer Januarausgabe 2006.
"Wir waren total verblüfft, weil wir kannten halt die Zahlen ansonsten."
Babette Rohner, Soziologin und Sozialarbeiterin bei der Koordinations- und Beratungsstelle gegen Menschenhandel "Ban Ying" in Berlin.
"Das sind inzwischen noch weniger, aber damals waren das Hellfeld – also die Zahlen der Polizei – das waren um die 1000. 1000 bis 1200 Betroffene von Menschenhandel bundesweit, wenn es um sexuelle Ausbeutung ging. Und jetzt sollten auf einmal für vier Wochen, so lange dauert ja eine WM, 40.000 Frauen illegal nach Deutschland gebracht werden. Das müssen Sie sich mal vorstellen, diese Größenordnung: Also 40.000 Frauen irgendwie illegal über die deutsche Grenze bringen und vielleicht noch über ein paar andere, damit sie hier eingesperrt zur Prostitution gezwungen werden. Das war völlig absurd für uns, die Vorstellung."
Die Zentrale von Ban Ying liegt in einem Büro in einem Hinterhaus in Berlin-Mitte. Das Frauenprojekt setzt sich für die Rechte von Migrantinnen ein, die Opfer von Gewalt, Ausbeutung oder Menschenhandel geworden sind. Unter anderem kümmern sich die Sozialarbeiterinnen um Zwangsprostituierte.
"Ganz korrekt ist 'Betroffene von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung'. Das ist natürlich ein bisschen mühseliger als 'Zwangsprostituierte'. Wir können auch gerne von 'Zwangsprostituierten' sprechen, das macht’s kürzer."
40.000 Zwangsprostituierte sollten zur WM 2006 nach Deutschland gebracht werden. Das ist die Einwohnerzahl einer mittelgroßen Stadt wie Wismar, Bruchsal oder Kaufbeuren. Immer noch, neun Jahre später, taucht die Zahl hier und da auf.
"Das ist ja das Verrückte: Die ganzen Analysen nach der WM haben ergeben: Während dieser vier Wochen ist der Menschenhandel in Deutschland nicht angestiegen. Und das, obwohl mehr Razzien gemacht wurden; obwohl viel mehr Präsenz war. Das heißt, so gesehen war er geringer als zu normalen Zeiten."
"Alle vorliegenden Daten, Informationen und Expertenmeinungen weisen deutlich darauf hin, dass es keine Zunahme von Menschenhandel gab, weder während noch nach der Weltmeisterschaft. Unsere Studie führt zu dem Ergebnis, dass die geschätzte Zahl von 40.000 Frauen, die Opfer von Menschenhandel werden sollten, unrealistisch und unfundiert war. Während der Fußballweltmeisterschaft wurden dem Bundeskriminalamt 33 Fälle gemeldet, bei denen aufgrund von Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung und / oder der Förderung von Menschenhandel ermittelt wurde. Davon konnte nur in fünf Fällen eine direkte Verbindung zur Fußballweltmeisterschaft festgestellt werden."
So das Ergebnis einer Studie der Internationalen Organisation für Migration aus dem Jahr 2007.
Aber woher kam diese Zahl?
"Es gab niemand Verantwortlichen. Der war nicht zu finden."
Sozialarbeiterin Babette Rohner.
"Wir haben dann relativ schnell versucht, das öffentlich zu machen. Um zu sagen: Diese Zahl ist fiktiv, die hat überhaupt keine Grundlage. Wir haben dann auch gefragt, wie sich das denn ausrechnet. Warum gerade 40.000? Gibt’s dazu irgendwelche Analogien? Man kann ja sagen, es gibt so und so viele Prostituierte in Deutschland, oder es kommen so und so viele Männer zur WM, und daraus schließen wir, dass... Es gibt ja so statistische Verfahren. Hat niemand irgendwas angeben können, was eigentlich die rechnerischen Grundlagen dieser Zahl sind. Aber alle waren sich sicher."
Die 40.000 waren ein Gerücht, das weiß man heute ziemlich sicher. Aber die Zahl war in der Welt und bis heute, neun Jahre später, ist sie im Umlauf.
Was ist das Geheimnis dieser Zahl? Und was ist das überhaupt, ein Gerücht? Und was ist Klatsch?
Das Hörensagen ist so alt wie die menschliche Kommunikation. Und um es zu verstehen, lohnt ein Blick weit zurück in der Kulturgeschichte.
Kapitel 2 - Kulturgeschichte des Klatsches
"Das Haus der Fama ist der Sitz der Fama. Dieses Haus liegt zwischen den drei Welten Himmel, Meer und Erde."
Hans-Joachim Neubauer, Professor für Kulturjournalismus und Autor des Buchs "Fama – eine Geschichte des Gerüchts".
"Es ist aus Erz gemacht, aus Stahl, aus Eisen und es hat tausende von Luken, die sind immer geöffnet. Und durch diese Luken gehen dann die Menschen ein und aus, beziehungsweise ihre Allegorien, und natürlich Stimmungen oder Charaktereigenschaften, die Lüge geht da ein, der Neid, die Eifersucht. Aber auch die Wahrheit hält dort Einzug und in diesem Haus der Fama vermischt sich das alles."
Vor über 2000 Jahren entwirft der römische Dichter Ovid die Allegorie des "Hauses der Fama" in seinen Metamorphosen. Es ist ein Ort, von dem aus alles gesehen werden kann. Ein Ort des ununterbrochenen Lärms, wo es keine erkennbaren Wörter gibt, nur unverständliches Gemurmel, bei dem man nicht weiß, woher es stammt.
Das lateinische Wort fama lässt sich übersetzen als Ruhm, Ruf oder Gerede. Schon in der Antike ist das Wort mit zwei gegensätzlichen Bedeutungen besetzt. Zum einen die bona fama, der gute Ruf: ein tugendvoller Verdienst. Und im Gegensatz dazu die mala fama, das schlechte Gerede, das üble Gerücht. In der römischen Mythologie vereinen sich diese Gegenpole in einer Figur.
"Fama ist eine römische Gottheit. Ausgestaltet hat sie Vergil in seiner Aeneis. In ihr schlagen sich die Ängste der Metropole Rom nieder: die Ängste vor der ungezügelten, nicht mehr zu kontrollierenden Kommunikation. Die Ängste eben vor dem Gerücht."
"Da sind wa wieder."
"Aber nächste Woche bin ich nicht da."
"Ne, ick hab schon jehört!"
"Ick bin ja nächste Woche auch das letzte Mal, dann fahr ich ja weg."
"Sie sagt schon: Die eine kommt wieder, die andere fährt."
"Na ja, dann hat sie immer ein paar Kunden. Zum Quaddeln."
"Die beiden zum Beispiel, die kennen sich nur hier vom Friseur. Und dann wird eben jede Woche geschnattert. Man hat ja immer einen Angriffspunkt vom letzten Mal."
Andrea Fischer, Inhaberin der "Frisierstube Andrea Fischer" im Berliner Bezirk Friedrichshain.
"Den Laden habe ich 14 Jahre, es ist ein Friseurgeschäft, und ist ein bisschen Kiez. Ich bin generell alleine. Also alleine eigentlich nie wirklich, ist ja immer einer da. Aber Arbeiten tue ich alleine."
Die Wände des Salons sind aprikosenfarben gestrichen; es riecht nach Filterkaffee und Haarspray. Auf dem Friseurstuhl in der Mitte des Raums trohnt eine resolute Dame Anfang 70. Akribisch beobachtet sie im Spiegel, wie die Friseurin ihre Haare schneidet. Eine zweite Kundin betritt den Raum.
"Ach, heute geht's bowlen noch?"
"Ja, heute geht’s noch bowlen!"
"Aber Sie sind doch sonst immer an 'nem anderen Tag gegangen."
"Ja, aber durch den Urlaub. Die sind in Schottland gewesen, die anderen, und die konnten nicht. Habe ich gesagt, jut, dann machen wir Freitag. Bin ich auch zweimal beim Sport. Nicht übertreiben."
"Der Klatsch: Substantiv zu 'klatschen', die ursprüngliche Form ist 'klatz'. Steht für: 1.) Klatschender schall,
2.) Klatschender Schlag,
3.) Fleck, Schmutz, Feuchte Masse, Schandfleck,
4.) Geschwätz, geklätsch, zu klatschen. Dazu Stadtklatsch, Kaffeeklatsch, Theeklatsch, Alterweiberklatsch und dergleichen."
So die Definition in Grimms Wörterbuch. Als symbolischer Geburtsort des Klatsches gilt der vorindustrielle Waschplatz. Die sogenannte "Große Wäsche" des Mittelalters war Knochenarbeit; oft zog sie sich über Tage hinweg.
Um Schmutz und Lauge aus den Kleidern herauszupressen, schlug man die Wäsche auf Steine – ein Geräusch, das klingt wie "Klatsch". Wie andere Arbeiter Lieder singen, erzählten man sich Neuigkeiten aus dem Ort und spann die Geschichten weiter. Auch die Wäsche selbst gab einiges Preis: Blut- oder Spermaflecken zum Beispiel waren ein Nährboden für Gerüchte und Hörensagen. So eignete man sich machtvolles Geheimwissen an und trug es weiter. Noch heute heißt es, dass "schmutzige Wäsche gewaschen wird".
"Klatsch beruht in der Regel darauf, dass zwei Personen sich über eine dritte unterhalten, die beide von ihnen kennen."
Hans-Joachim Neubauer.
"Man nennt das die Klatsch-Triade, man kann sozusagen die Positionen A und B, die über C sprechen, austauschen, dann können auch A und C über B sprechen. Das Gerücht ist sehr viel größer. Es hat mit einer persönlichen Kenntnis der Teilnehmenden überhaupt nichts zu tun. Jeder kann ein Gerücht weitergeben, jeder kann ein Gerücht aufschnappen und über jeden, der wichtig genug ist, kann es ein Gerücht geben. Und diese Anonymität ist nicht nur sozusagen ein Nebenaspekt des Gerüchts, sondern ganz wichtig. Das anonyme Sprechen ist die Lizenz, die das Gerücht gibt. Das heißt, man kann an einer Nachricht teilnehmen, ohne für sie als Autor namhaft gemacht zu werden. Und dieses Nicht-Namhaft-gemacht-zu-werden gibt natürlich unglaubliche Freiheiten."
Kapitel 3 - Der falschen Quelle auf der Spur
"Schätzungsweise sollen während des einmonatigen Wettkampfs 40.000 Frauen und Kinder nach Deutschland gebracht werden, um käuflichen Sex in Mega-Bordells, Verrichtungsboxen und anderen legalen Orten anzubieten sowie in großen Untergrund-Netzwerken, die in Deutschland existieren."
Die amerikanische Washington Post am 10. Juni 2006.
"Also 40.000 ... es war wirklich, es gab keine Quelle. Aber es war in Gang gesetzt."
Sozialarbeiterin Babette Rohner vom Frauenprojekt gegen Menschenhandel Ban Ying.
"Und wie die Presse das auch gerne dann mal macht, dann wurde voneinander abgeschrieben. Und dann ging das weiter, dann fing Schweden an, sich aufzuregen und fing an zu überlegen, ihre Fußballer gar nicht nach Deutschland zu schicken. Und die USA haben sich an Deutschland gewandt und gefragt: Was ist hier los? Wieso gibt es so viele Zwangsprostituierte in Deutschland, zumindest zur WM, wieso unternimmt Deutschland nichts? Also das hat unglaubliche Ausmaße angenommen, dieser Skandal."
"Protecting the non-negotiable demands of human dignity is the equal calling of every country."
Die dahemalige amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice am 5. Juni 2006. Bei einer Pressekonferenz stellt sie den jährlichen Menschenhandelsbericht des US-Außenministeriums vor.
"Thank you Madam Secretary for those that wanna follow up with questions."
Im Anschluss an Rice stellt sich ihr Kollege John Miller den Fragen der Reporter. Der Politiker ist zu dem Zeitpunkt Leiter der staatlichen Einrichtung zur Beobachtung und Bekämpfung von Menschenhandel.
"If I could ask you a quick second question that is on Germany: How worried is the US about the possibility of increased trafficking for the World Cup?"
"Are we concerned about the World Cup? And the answer to that in terms of trafficking is: Yes."
Auf die Frage, ob er besorgt sei über Zwangsprostituierte, die für die WM nach Deutschland gebracht würden, antwortet Miller mit einem klaren Ja.
"I have expressed my concern directly to the German ambassador here, we have sent a letter to the German ambassador, we have also been touch through our embassy. The German government has said that it would take measures to stop trafficking, so we'll see what happens."
Miller sagt, er habe seine Bedenken dem deutschen Botschafter in Washington mitgeteilt, es sei auch ein formeller Brief geschrieben und die US-Botschaft in Berlin befragt worden. Die deutsche Regierung habe ihm Maßnahmen zugesagt, um den Menschenhandel zu stoppen.
"In ihrem jährlichen Bericht zu Zwangsarbeit und Menschenhandel haben die USA Deutschland, das Prostitution legalisiert hat, ein 'Ursprungs-, Transit- und Zielland' für Sexarbeiter genannt, umso mehr während der Fußballweltmeisterschaft."
Die New York Times, weltweit wohl das wichtigste Leitmedium, am 6. Juni 2006, dem Tag nach der Pressekonferenz.
Vor Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft hatte das Gerücht die Weltpresse und das politische Parkett erreicht – und das, obwohl in Deutschland selbst schon zahlreiche Dementi im Umlauf waren. Öffentlich ruderten Medien, Behörden sowie Aktivistinnen und Aktivisten zurück. Stellen, die zuvor mit der Zahl in Verbindung gebracht worden waren, sprachen plötzlich davon, dass die 40.000 übertrieben seien.
Aber woher kommt diese Zahl ursprünglich? In frühen Medienberichten taucht immer wieder der Deutsche Städtetag als Quelle auf. Auf Anfrage teilt der Verband mit, die Zahl nicht herausgegeben zu haben. Doch eine Spur führt zu einer Veranstaltung, die am 7. und 8. April 2005 in Bremen stattfand.
Hier traf sich der Ausschuss für Frauen und Gleichstellungsangelegenheiten des Deutschen Städtetags. Das Gremium tagt zweimal im Jahr und hat in seiner Arbeit zunächst wenig mit der tagtäglichen Arbeit des Dachverbands zu tun. 2005 standen auf der Tagesordnung unter anderem die Beurteilung von "Ein-Euro-Jobs" aus Frauensicht und ein Gesetzentwurf zur Bekämpfung von Stalking. Ein Thema unter vielen war auch ein möglicher Anstieg der Prostitution zur Fußball-WM.
"Nach jeder Tagung wird vor Ort eine kleine Pressekonferenz gegeben, auf der die Beratungen, die wir in den zwei Tagen hatten, dargestellt wird."
Ulrike Hauffe. Sie ist damals wie heute die Bremer Landesbeauftragte für Frauen und gleichzeitig Vorsitzende des Frauen- und Gleichstellungsausschuss des Deutschen Städtetags.
"Und da war das dann auch eins der Themen. Aber wie das so ist: Das Thema Prostitution wird sofort gegriffen und es ist dann das einzige, was angeblich beraten war."
Denn auch ein Reporter der Nachrichtenagentur dpa ist bei der Tagung vor Ort. Am 8. April 2005 um 16:27 Uhr veröffentlicht die Agentur über ihren Newsticker einen Bericht mit der Überschrift "Flut von Prostituierten aus Osteuropa zur Fußball-WM befürchtet".
"Den Austragungsstädten der Fußball-WM 2006 in Deutschland droht nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden eine Flut von Prostituierten aus Osteuropa. 'Es geht angeblich um 30.000 bis 40.000', sagte die Vorsitzende des Ausschusses für Frauen und Gleichstellung des Deutschen Städtetages, Ulrike Hauffe, am Freitag in Bremen unter Berufung auf das Bundeskriminalamt in Wiesbaden. Diese Zahlen seien aber 'rein spekulativ'. 'Schon jetzt wird organisiert, wie die Prostituierten in die WM- Städte eingeschleust werden können', meinte Hauffe."
30.000 bis 40.000 Prostituierte, die zur WM nach Deutschland kommen würden – dies wird die Nachricht, die die dpa nach Ende der Tagung herausgibt. Allem Anschein nach ist das der Moment, in dem die Zahl zum ersten Mal aufgeschrieben auftaucht.
"Kurz zuvor hatte stattgefunden eine Arbeitsgruppe, die es auf Bundesebene gibt: nämlich die Bund-Länderarbeitsgruppe zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Und die wiederum hatte Informationen vom Bundeskriminalamt bekommen, dass wahrscheinlich 30- bis 40.000 Frauen nach Deutschland geschleust würden."
Diese Zahlen, so erinnert sich Ulrike Hauffe heute, habe die Arbeitsgruppe an sie weitergegeben; sie habe sie dann während der Pressekonferenz zitiert.
"Wir dachten, wenn jemand so etwas sagt, also eine ungefähre Zahl in die Welt setzt mit dem Absender BKA, dann wird das schon einen Hintergrund haben, den wir dann nicht für spekulativ gehalten haben. Obwohl formuliert worden ist, es ist ein Schätzwert und es kann auf keinen Fall davon ausgegangen werden, dass man diese Zahl weiß."
Auch der dpa-Reporter zitiert Ulrike Hauffe.
"Unter Berufung auf das Bundeskriminalamt in Wiesbaden."
Ist also das BKA der Ursprung der 40.000? Viele Gesprächspartner dort können sich heute nicht mehr erinnern. Schließlich teilt eine Sprecherin mit, nach Rücksprache mit dem zuständigen Fachbereich könne das BKA ausschließen, dass die Zahl aus der Behörde stammt.
Eine Zahl steht im Raum. Ein Journalist der dpa schreibt sie auf. Er verweist auf eine prominente Frauenbeauftragte, die sich wiederum auf eine Behörde beruft. Diese dementiert, dass die Zahl von ihr kommt. Aussage gegen Aussage. Hier endet die Spurensuche nach dem Ursprung dieses Gerüchts.
Aber wie konnte die Zahl sich verbreiten?
Nachrichtenagenturen liefern Zeitungen Meldungen in druckreifen Texten. Im Journalistenjargon zählen die großen Agenturen wie Reuters, AP oder die dpa als "zitierfähig". Oftmals veröffentlichen Medien meist aus Kosten- oder Zeitgründen dpa-Artikel fast unverändert.
Am 9. April 2005 erscheint der dpa-Bericht gekürzt und nur unwesentlich verändert in der Tageszeitung Hamburger Abendblatt. Die Überschrift der dpa wird geändert zu "40.000 Prostituierte zur WM", in Anführungszeichen. Damit ist die Zahl im Umlauf.
"Es gab an keiner Stelle die Möglichkeit, das wieder zurückzunehmen. Abgesehen davon, dass ich auch gar keine Möglichkeit gehabt hätte, es zurückzunehmen, denn ich hatte ja auch keine anderen Informationen."
Ulrike Hauffe betont, dass sie selbst die Zahlen immer als spekulativ bezeichnet hat. Das stimmt. Doch die 40.000 war nicht mehr aufzuhalten.
"Mein Bedürfnis wäre gewesen, doch irgendwie diese Zahl nicht genannt zu haben, weil es komischerweise immer um diese Zahl gegangen ist."
Anruf in Australien.
"Hello?"
"Hi Sanja, this is Janosch Delcker for German National Public Radio."
"Hi Janosch, I was just about to write you an e-mail."
Die Kriminologin Sanja Milivojevic forscht an der australischen University of New South Wales zu Zwangsprostition, Menschenhandel und Migration.
"Die WM in Deutschland war das erste Mal, dass wir eine Art moralische Panik erlebt haben, bei der ein Sport-Großereignis und Menschenhandel in Verbindung gebracht wurden. Interessant war, dass alle Protagonisten, die an dieser Panik beteiligt waren, nie hinterfragt wurden – weil sie größtenteils echte Instanzen in ihrem Feld sind. Wenn die Internationale Organisation für Migration oder die amerikanische Regierung etwas sagt, dann nimmt man das eben für bare Münze. Und sobald eine Information einmal im Umlauf ist, versucht keiner, sie zurückzuverfolgen."
Kapitel 4 - Klatsch als Sinnstifter
"Wir Menschen sind Gesellschaftstiere im wahrsten Sinne des Wortes. Keiner ist gerne allein."
Die Berliner Friseurin Andrea Fischer. Im ihren Salon sind tummeln mittlerweile ein Herr und fünf Damen, die jüngste Mitte 20, die älteste Mitte 70.
"Hier wird eigentlich alles ausgetauscht oder es kommt bloß einer rein und trinkt bloß 'nen Kaffee. Ist so eine Gesellschaftsgeschichte. Wo man sagt, 'kann ich mich kurz hinsetzen?' Oder andere haben viele Fragen, oder, oder… Und es ist immer einer da, der auf so was eine Antwort hat."
"Wegen dieser Taxi-App – weitergekommen oder nicht?"
"Nein, ich komme nicht weiter. Ich komme immer nur bis zum Internet, wo sie sagen, ich soll mich anmelden. Und wenn ich mich anmelde, sagt er 'Passwort falsch'. Ist aber nicht falsch. Und dann sagt er immer 'Neu anmelden' Und wenn ich mich neu anmelde, geht’s auch nicht weiter."
"In Facebook, da möchte ich nicht gerne 'rin."
"Ich möchte das gerne so über Internet rauskriegen, dass ich da dann nicht angemeldet bin. Das möchte ich nicht so gerne. Weil ich nicht so viel Ahnung habe. Da mache ich nachher was falsch, und dann wollen die ja eine Kontonummer haben."
"Für wat denn?"
"Ja ja, das muss man da alles angeben."
Der Klatsch erfüllt eine soziale Funktion: Er kann Sinnstifter sein, hilft Ordnung in eine Welt zu bringen, die man selbst nicht ganz versteht. Im Klatsch sucht man nach vertrauten Erklärungen für Unverständliches.
Das ist die helle Seite des Klatsches. Er hat auch eine dunkle: Der Klatsch dient dazu, Machtverhältnisse aufrecht zu halten. Während man klatscht, vergewissert man sich einer sozialen Ordnung – wer nicht hineinpasst, über den wird geklatscht. So wird er oder sie als Außenseiter gekennzeichnet.
Und wenn das Hörensagen nicht mehr unbedingt personenbezogen und zielgerichtet ist, sondern wenn es um Unbekanntes geht und wenn das Hörensagen mehrdeutig ist, dann begibt man sich ins weite Feld der Gerüchte.
"Scharen erfüllen die Halle [im Haus der Fama]; da kommen und gehen, ein leichtes
Volk, und schwirren und schweifen, mit Wahrem vermengt, des Gerüchtes
Tausend Erfindungen und verbreiten ihr wirres Gerede.
Manche von ihnen erfüllen mit Schwatzen müßige Ohren,
Andere tragen dem Nächsten es weiter, das Maß der Erdichtung
wächst, und etwas fügt ein Jeder hinzu dem Gehörten."
Ovid im Buch XII der Metamorphosen.
Hans-Joachim Neubauer: "Ovids Haus der Fama ist eine Art von Struktur, eine Metastruktur, die Gerüchte-Sprechen ermöglicht, eine Struktur, in der Wahres und Falsches verbunden werden, in der Emotionen eine ganz große Rolle spielen, in der die Dinge sich wandeln: Metamorphosen. Es ist sozusagen das Architektur gewordene Prinzip der Durchlässigkeit. Mit anderen Worten: Es ist das Internet. Ja, das Internet funktioniert ja ganz ähnlich. Es ist immer offen und alle weben daran mit an den Bedeutungen, die dort entstehen. Wenn man dann noch sieht, dass es letztendlich aus Erz gemacht ist und alle Luken offen stehen, dann hat man wirklich das Gefühl, dass Ovid hier 2000 Jahre nach vorne geschaut hat."
Kapitel 5 - Was man aus dem WM-Gerücht lernen kann
Babette Rohner: "Wie immer bei der Prostitution, diese Diskussion ist so unglaublich moralisch aufgeladen."
Hans-Joachim Neubauer: "ImGerücht kann man sich sehr gut über andere erheben, wir stehen auf der richtigen Seite. Man sagt: „Ist ja unglaublich, was da passiert, habt ihr schon gehört?“ Und man gibt das weiter, was man selbst gehört haben."
Babette Rohner: "Na ja, man kann sich dann so ereifern. Das eine ist so ein ganz großes Bedauern: 'Die armen, armen Frauen. Und wie schlimm das alles ist...' Und ich sage das jetzt so – natürlich ist Menschenhandel schlimm. Ich berate die Betroffenen, ich weiß, wovon ich spreche. Aber dieses öffentliche Bedauern, das hat etwas sehr Heuchlerisches."
Und das Gerücht verändert fortlaufend seine Form.
"Typisch ist eben dieser nahtlose, völlig unreflektierte Übergang von Prostitution zu Zwangsprostitution. Am Anfang hieß es tatsächlich 30.000 bis 40.000 Prostituierte. Das switchte sofort um zu 30.000 bis 40.000 Zwangsprostituierte, was ja einen sehr großen Unterschied macht."
Zum ersten Mal scheint der Begriff Zwangsprostitution in einem zweiseitigen Spiegel-Bericht vom November 2005 aufzutauchen. Zwar schreibt das Magazin von "bis zu 40.000 Huren aus Osteuropa", fügt direkt danach jedoch an: "Mit Kampagnen und Appellen (...) formieren sich die Kritiker deshalb gegen die Zwangsprostitution." Die feministische Zeitschrift Emma ist allem Anschein nach das erste Medium, das im Dezember 2005 explizit von "40.000 Zwangsprostituierten" spricht.
Hans-Joachim Neubauer: "Die meistgebrauchte Metapher für Gerüchte ist das Virus. Man sagt, dass sich das Gerücht ausbreitet wie eine Seuche, also sozusagen durch Kontakt weitergegeben wird und sich dann endemisch verbreitet. Wenn man die Studien dazu anschaut - es wurde versucht, Gerüchte zu messen - dann ist da schon was dran. Wir haben Telefon, Radio, Internet und so weiter. Damit geht das dann natürlich auch noch sehr viel schneller als eine Seuche. Zum anderen ist die Metapher des Virus auch nicht sehr geschickt. Denn das setzt voraus, da ist etwas gesund, und dann kommt von außen das böse Virus und zack, sind die alle krank. Es ist aber nicht so, dass alle unschuldig sind, und dann kommt das Gerücht über sie kommt und sie müssen mitmachen – es gibt eine Kreativität beim Gestalten von Gerüchten, man erfindet was dazu, lässt was weg und so weiter."
Mai 2014. Das Presseamt des Heiligenstuhls im Vatikan. Wie hinter einem Richterpult sitzen drei Ordensschwestern neben zwei Kardinälen am Ende eines hellblau ausgekleideten Saals. Die Nonnen vertreten die Initiative "Talitha Kum". Sie haben Journalisten eingeladen um eine Kampagne gegen Zwangsprostitution bei der Fußball-WM 2014 in Brasilien vorzustellen. Nach einer guten halben Stunde ergreift Ordensschwester Gabriella Bottani das Wort:
"Die Erfahrungen der Organisation 'Vita Consacrata' und anderer weisen nach, dass die Risiken von Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und Zwangsarbeit bei Großveranstaltungen höher werden. Das hat sich gezeigt während der Weltmeisterschaft in Deutschland und Südafrika, wo hat es eine Zunahme des Menschenhandels von 30 beziehungsweise 40 Prozent gab."
Im Anschluss veröffentlicht die Nachrichtenagentur Reuters eine Meldung. Darin heißt es:
"Nach Aussagen der Ordensschwestern zeigen Statistiken, einen Anstieg der sexuellen Ausbeutung in Verbindung mit der Fußball-WM in Deutschland um 30 und in Südafrika um 40 Prozent."
Die Zahlen stützen sich auf keine zuverlässigen Quellen. Doch die Nachrichtenagentur zitiert die Zahlen ungeprüft. Noch am selben Tag veröffentlichen der amerikanische Fernsehsender Fox News, die indischen Times of India oder in Deutschland unter anderem Die Welt, die Neue Westfälische Zeitung oder Focus Online die Nachricht. Es sind neue Zahlen, doch die Mechanismen sind dieselben wie 2005. Und das Spiel geht von vorne los.
Und die 40.000? Die Spurensuche nach dem Ursprung dieser Zahl endet im Dreieck dpa-Meldung – Tagung des Frauen-Ausschusses – Bundeskriminalamt. Und wahrscheinlich scheint, dass die Zahl hier nicht entstanden ist – sondern dass sie schlichtweg zum ersten Mal aufgeschrieben und damit dokumentiert wurde.
Vielleicht ist genau das das Geheimnis der 40.000: Dass es keine eindeutige Quelle mehr gibt. Denn das Hörensagen lebt nicht davon, zurückverfolgt, sondern davon, weitergetragen zu werden. Das hat Ovid vor über 2000 Jahren beschrieben, und das ist auch heute noch so – wenn auch alles schneller passiert durch die neuen Medien.
Jeder der Beteiligten strickt ein bisschen am Gerücht mit: Erst heißt es, durch die WM würde Prostitution zunehmen – was durchaus sein kann. Dann taucht eine vage Zahl auf. Sie wird immer weitergereicht, irgendwann wird sie konkret: 40.000. Dann werden aus den freiwilligen Sex-Arbeitern Zwangsprostituierte. Man biegt sich die Wirklichkeit zurecht, damit sie sich zu einem sinnvollen Gesamtbild zusammensetzt. So funktioniert das Gerücht. Und leider funktioniert so oft auch das tagtägliche Nachrichtengeschäft.
Babette Rohner: "Es gibt so einen Abstumpfungsprozess, auch durch diese Art von skandalisierender Berichterstattung. Wenn geschrieben worden wäre, es kommen vielleicht 500 Betroffenen von Menschenhandel nach Deutschland. Dann hätten vielleicht die üblichen Verdächtigen geschrieben: Oh Weia, man muss etwas tun. Aber dass das so eine Riesen-Welle gegeben hätte wie diese 40.000: Nein, glaube ich nicht. Und das Verrückte ist eben, dass diese Zahl so groß ist, dass wenn man anfängt darüber nachzudenken, dass einem klar wird, das kann nicht stimmen. Aber sie hat Standards gesetzt. Zahlen unterhalb dieser Zahl haben es jetzt schwer. Das müssen jetzt immer viele, viele, viele sein. Und das ist das Schlimme an so einer Zahl, das sind die langfristigen Konsequenzen. Da ist ja jede Frau, die zur Prostitution gezwungen wird, eine zu viel. Aber das ist dann nicht mehr relevant. Denn es müssen ja 40.000 werden."
Mehr zum Thema