Programm Germany Close up

Ein neuer Blick auf Deutschland

Ein Chanukka-Leuchter auf dem Pariser Platz am Brandenburger Tor in Berlin, Dezember 2014
Es gehe darum, "Verständigung herzustellen, auch Verständnis" zwischen amerikanischen Juden und Deutschen, sagt die Leiterin von "Germany Close up", Dagmar Pruin. © picture alliance / dpa
Von Carsten Dippel · 01.07.2016
Wer oder was ist Deutschland heute? Und wie geht das Land mit dem Holocaust um? Diesen Fragen gehen junge amerikanische Juden in dem Programm "Germany Close up" nach. Auf ihrer knapp zweiwöchigen Reise suchen sie auch nach den Wurzeln des liberalen Judentums.
Berlin-Mitte an einem warmen Junitag. Touristen schlendern durch die Straßen des alten Scheunenviertels. Auf einem kleinen Areal in der Großen Hamburger Straße, ganz mit Efeu berankt, erinnert ein Gedenkstein an den großen Philosophen Moses Mendelssohn. Vor dem Krieg war hier einer der ältesten jüdischen Friedhöfe Berlins. Dann zogen sich Schützengräben darüber, die Grabsteine wurden zum Pflastern missbraucht. Später erinnerte sich kaum noch jemand an den Friedhof. Ein leerer Raum, wie so viele in der Hauptstadt, angefüllt mit Geschichte.
Paykin (Voiceover): "Es ist für jeden wichtig zu wissen, woher man stammt. Speziell das nordamerikanische Judentum zeigt sich heute anders als jenes Judentum hier an dem Ort, von wo es ursprünglich herkommt. Wo seine ideengeschichtlichen Wurzeln liegen. Und ich denke, es ist sehr wichtig, sich das bewusst zu machen und zu erfahren."

Keine Public Relations für Deutschland

Jesse Paykin wuchs in Toronto auf. Er ist Rabbinerstudent am liberalen Hebrew Union College in New York. Gemeinsam mit einigen Mitstudenten besucht er Deutschland im Rahmen eines speziellen Programms: Germany Close Up. Es bietet jungen amerikanischen Juden die Möglichkeit, Deutschland näher kennenzulernen.
Dagmar Pruin: "Mir ist es wichtig, dass die jungen amerikanischen Jüdinnen und Juden sich ein eigenes Bild von Deutschland machen können. Wir machen mit diesem Programm nicht Public Relations für Deutschland, wir zeichnen kein wunderbares problemloses Deutschland. Wir zeigen die guten Seiten, die schlechten Seiten, so, wie wir sie empfinden. Aber wir möchten, dass die Teilnehmer unseres Programms sich mit der Geschichte, mit Narrativen, mit ihrer eigenen Familiengeschichte, mit Geschichten hier auseinandersetzen. Wie sie dann darauf reagieren, ist ihre Sache."
Seitdem das Programm 2007 ins Leben gerufen wurde, kamen mehr als achtzig Gruppen mit insgesamt 1700 Teilnehmern nach Deutschland. Studierende, junge Berufstätige, Orthodoxe wie Liberale. Auf einer zehn- bis zwölftägigen Reise quer durch Deutschland begegnen sie diesem Land, das so viel auch mit ihrer eigenen Geschichte zu tun hat. Zugeschnitten auf die Sonderheiten und individuellen Bedürfnisse der jeweiligen Gruppen. Dagmar Pruin, Geschäftsführerin von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste, ist Initiatorin und Leiterin des Programms Germany Close Up.
Pruin: "Wenn man sich anschaut, wie viele Jüdinnen und Juden in den USA über Deutschland denken, dann gibt es eine ganz große Reserviertheit. Da gibt es sehr viele Familien, die bis heute keine deutschen Produkte kaufen würden und Deutschland auch nicht einfach besuchen würden. Wir sind jetzt nicht so zu Gange, dass wir sagen und wir bauen jetzt die Brücken über diese Gräben, also darum geht’s nicht. Es geht nicht darum, Leute auf ein Programm zu bringen und sie in irgendetwas hineinzuzwingen, sie womöglich gar in irgendeine Art von Versöhnung zu zwingen. Sondern es geht darum, Verständigung herzustellen, auch Verständnis herzustellen, wo bisher wenig ist."
Levin (Voiceover): "Deutschland repräsentiert eine Menge unterschiedlichster Interessen für Juden in Amerika und Israel und es ist ein Ort mit einer komplizierten Geschichte. Ich möchte unbedingt mehr davon erfahren, worin die besonderen Beziehungen zwischen Deutschen und Juden, zwischen Deutschland und Israel liegen. Dieses Beziehungsgeflecht finde ich sehr wichtig, auch für die Frage, wo man herkommt.

Neugier für Deutschland wecken

Auch Jay Levin möchte Rabbiner werden. Das Hebrew Union College mit Standorten in New York, Los Angeles und Jerusalem bietet verschiedene Ausbildungsmöglichkeiten für liberale Juden. Vorbehalte gegenüber Deutschland seien unter ihren Studenten weniger stark zu finden, sagt die Professorin Leah Hochman, nicht zuletzt, weil sie ein großes Interesse am Reformjudentum hätten, das aus Deutschland kommt. Auf ihre Reise nach Deutschland hat sie sich mit ihnen intensiv vorbereitet.
Hochmann (Voiceover): "Das Entscheidende für mich ist die Erfahrung, Deutschland zu begegnen nicht mit einem Gefühl von Angst oder Ärger, sondern mit einer gewissen Neugier. Ein Teil unserer Vorbereitung bestand darin, diese Neugier zu wecken, gleichzeitig aber auch, auf die anderen Emotionen zu achten und sie nicht zu leugnen. Ich denke, dieses Programm verändert das Leben der Leute. Auch ihren Blick auf Deutschland und die jüdische Geschichte. Für mich als Lehrerin ist es ein wunderbares Geschenk, diese Veränderungen zu spüren."
Caren Roman studiert am Hebrew Union College in New York jüdische Bildungsarbeit.
Caren (Voiceover): "Meine Großeltern waren Holocaustüberlebende und ich bin mit dieser einschneidenden Erfahrung aufgewachsen. Deutschland galt bei uns immer als ein dunkler Ort, doch ich wollte meine eigene Erfahrung machen. Viele Freunde von mir leben in Berlin, eine wunderbare Stadt, die einem auch ein Gefühl für die Verwerfungen der Geschichte gibt. Diese schreckliche Tragödie wird uns dabei immer verbinden, Juden wie Deutsche. Für mich ist es gerade in der jüdischen Bildungsarbeit sehr wichtig, darüber zu sprechen. Was es bedeutet, über die Geschichte zu sprechen, über all das, was das jüdische Volk erfahren hat."

Die Shoa ist immer präsent

Es ist ein dichtes Programm, das die Gruppe vom Hebrew Union College in den gut anderthalb Wochen in Deutschland absolviert. Berlin zum Auftakt, Seminare, reflecting rounds, ein gemeinsamer Shabbat mit Studenten des Abraham Geiger Kollegs. Der Rabbinerstudent Nathan Treef informiert sich in der Topographie des Terrors über den Gewaltapparat der Nazis.
Treef (Voiceover): "Mich interessiert es sehr, wie Deutschland mit seiner komplizierten Geschichte umgeht. Wie die Einstellung gegenüber den amerikanischen Juden ist, trotz dieser Geschichte, die dazwischen steht. Und ich will unbedingt Deutsche, vor allem nicht-jüdische Deutsche kennenlernen und mich mit ihnen austauschen. Es ist für mich eine der wichtigsten Fragen, wie die jungen Deutschen mit dieser Geschichte im Gepäck nach vorne schauen."
Auch ein Besuch in der Gedenkstätte Sachsenhausen steht auf dem Programm. Die Shoah ist als Thema im Hintergrund bei den Programmen immer gegenwärtig.
Pruin: "Gleichzeitig ist es wichtig, nicht nur darum zu kreisen, also dieser Gravitationspunkt ist da und der muss auch da sein. Denn nur, wenn wir diesen Punkt wirklich ernst nehmen, können wir auch weiter über Gegenwart und Zukunft sprechen. Und gleichzeitig ist es wichtig, da nicht stehen zu bleiben. Es geht auch darum, die Zukunft gemeinsam zu gestalten und es ist auch wichtig, das Judentum in Deutschland oder das europäische Judentum nicht nur auf diese Zeit zu beschränken.

Ein Bild machen vom liberalen Judentum

Im Martin Gropius-Bau besucht Jesse Paykin mit den anderen eine Ausstellung des Tel Aviv Museum of Art, das zu Gast in Berlin ist.
Paykin (Voiceover): "Viele von uns fahren heute nach Polen, eine Erinnerungstour zu den zerstörten jüdischen Gemeinden, das neue jüdische Leben dort zu sehen und etwas Jüdisches zu finden. Ich denke aber, das Judentum, das viele in Nordamerika praktizieren, ist mehr deutsch als polnisch. Es ist wichtig, nach Polen zu fahren, genauso wichtig meiner Meinung nach aber auch, nach Deutschland zu kommen. Wir müssen beides zusammen sehen, weil wir uns als nordamerikanische Juden kein Bild über uns selbst machen können, ohne ein Verständnis für das liberale Judentum, welches nun mal aus Deutschland kommt und nicht aus Polen."
Zum Programm von Germany Close Up gehören auch Treffen mit Politikern. Heute ist es eine Diskussionsrunde mit Karsten Voigt, vormals Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-amerikanische Zusammenarbeit.
Voigt: "Meine Erfahrungen sind gewesen, dass sich in Amerika die amerikanischen Juden mehr als der Durchschnitt der Bevölkerung für Außenpolitik interessiert, mehr für Europa, sich mehr als naturgemäß mit Israel beschäftigt, mehr mit Osteuropa beschäftigt, viel mit Menschenrechtsfragen zu tun hat. Und dass sie letzten Endes – so wie die Deutschen im Negativen wie Positiven ihre Geschichte nicht ohne den Faktor Juden definieren können – können die amerikanischen Juden ihr Judentum nicht definieren ohne den Faktor Deutschland. Das heißt, es ist eine zwar negativ belastete Beziehung, aber gleichzeitig mit der Chance einer großen Intensität und mit einer Chance zu einer großen gemeinsamen Agenda."

Reisen, um die eigene Geschichte zu verstehen

Ein Abend in einer Kreuzberger Kneipe. Bevor sie von Berlin aus zum Kirchentag nach Stuttgart aufbrechen, sind Caren, Jesse, Nathan und die anderen zu einem Diner mit jungen Deutschen zusammengekommen. Es geht laut zu, die Stimmung ist ausgelassen,
Es ist das Interesse am Reformjudentum, an deutscher Geschichte, aber auch am Bild vom modernen Deutschland, das die Gruppe vom Hebrew Union College hierher geführt hat. Letztlich geht es auch darum, so sagt es eine der Teilnehmerinnen, dass sie als künftige jüdische Führungspersönlichkeiten etwas von dem Land wissen, das so viel mit ihrer Geschichte zu tun hat.
Paykin (Voiceover): "Ich musste mein eigenes Zuhause verlassen, um zu wissen, wo ich herkomme. Das ist ein wichtiger Grund, warum man überhaupt auf Reisen geht. Es kann dir helfen, deine eigene Geschichte zu verstehen."
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