Primaten-Forschung

Tierische Moral

Goldgelbe Löwenäffchen in ihrem Gehege im Heidelberger Zoo
Sinn für Gerechtigkeit? Löwenäffchen im Heidelberger Zoo © picture-alliance / dpa / Ronald Wittek
Von Frank Kaspar und Andreas Wessel · 27.11.2014
Ungerecht behandelt zu werden, empört uns. Andere ungerecht behandelt zu sehen, bereitet uns Unbehagen. Aber ist dieses Gerechtigkeitsgefühl angeboren oder anerzogen? Ein Blick in die Tierwelt gibt Auskunft.
Dass Tiere lachen können, entdeckte schon der Zoobesucher Charles Darwin. Auf dieser Aufnahme aus dem Tierstimmenarchiv des Berliner Museums für Naturkunde ist ein Schimpanse zu hören, der von seinem Wärter gekitzelt wird. Aber irgendwo hört auch für unsere tierischen Verwandten der Spaß auf: Die Primatologen Sarah Brosnan und Frans de Waal vom "Living Links Center"im US-Bundesstaat Georgia haben in der Zeitschrift "Nature" beschrieben, wie Affen reagieren, wenn sie ungerecht behandelt werden. Ihr Artikel wirft auch Licht auf den Ursprung des menschlichen Sinns für Fairness.
Ungerechtigkeit mögen die meisten Menschen gar nicht, und sie können das mit rationalen Argumenten gut begründen. Aber es gibt auch eine starke emotionale Reaktion: Ungerecht behandelt zu werden, empört uns, andere ungerecht behandelt zu sehen, bereitet uns Unbehagen, manchmal geradezu körperlichen Schmerz. Woher aber kommt diese Empfindung? Ist sie uns anerzogen worden? Beruht sie also auf "moralischen Werten", die unsere Eltern und die soziale Gemeinschaft uns vermitteln, oder ist da etwas tiefer in uns verwurzelt: ein angeborenes, "natürliches" Gerechtigkeitsgefühl?
Grundvoraussetzung für kooperatives Verhalten
Brosnan und de Waal werten in ihrem Überblicksartikel Forschungsberichte der letzten zehn Jahre aus und kommen zu dem Schluss, dass ein basales Gerechtigkeitsempfinden eine Grundvoraussetzung für die Evolution von kooperativem Verhalten ist. Wenn es daran geht, die Früchte gemeinsamer Anstrengungen zu verteilen, müssen Tiere in der Lage sein, Einsatz und Gewinn zu kalkulieren und mit denen ihrer Partner zu vergleichen.
"Zunächst einmal ist es für Tiere wichtig zu bemerken, dass sie weniger erhalten als ein Partner, denn dann stellen sie fest, dass der Ertrag des kooperativen Verhaltens gefährdet ist. Indem sie gegen diese Situation protestieren, zeigen sie eine Reaktion, die als 'Abneigung gegen Ungerechtigkeit' bezeichnet wird – auf Englisch: 'inequity aversion'."
Unter Tieren, die zum Beispiel auf der Jagd, bei der Futtersuche oder beim gemeinsamen Schutz des Reviers miteinander kooperieren, scheint diese Aversion weit verbreitet. Sie wurde bis heute bei Schimpansen, bei kleineren Affen wie Makaken, bei Hunden und Krähen beobachtet. Sarah Brosnan und Frans de Waal waren jedoch die ersten, die im Jahr 2003 eine negative Reaktion auf unfaire Behandlung nachweisen konnten – und zwar bei Kapuzineraffen.
Die Forscher hatten zwei Affen in benachbarten Käfigen dieselbe Aufgabe gestellt. Wenn die Tiere der Versuchsleiterin einen Stein heraus reichten, erhielten sie dafür eine Belohnung. Während der eine Affe allerdings mit einem Stück Gurke belohnt wurde, erhielt der andere eine Weintraube, die bei den Tieren viel beliebter ist. Sobald der weniger gut behandelte Affe das sah, warf er das Gurkenstück aus dem Käfig und rüttelte heftig an der Scheibe.
Echtes Fairplay
Aus menschlicher Sicht könnte man dieses Verhalten auch einfach "Neid" nennen, Brosnan und de Waal bezeichnen es etwas nüchterner als: "Abneigung gegen Ungerechtigkeit erster Ordnung", das heißt: Die Tiere protestierten gegen ihre eigene Benachteiligung. Spannender aber ist die Frage, ob es bei Affen auch eine "Abneigung gegen Ungerechtigkeit zweiter Ordnung" gibt, das heißt: die Ablehnung einer eigenen Bevorzugung. Das würden wir ja dann als echtes Fairplay bezeichnen.
Tatsächlich erklären die Autoren in ihrem aktuellen Artikel, weshalb auch ein solches, auf den ersten Blick uneigennütziges Verhalten im Lauf der Evolution einen Überlebensvorteil bringen könnte.
"Je stärker Tiere auf Kooperation angewiesen sind, desto vorteilhafter ist es, wenn sie auch empfindlich darauf reagieren, mehr zu erhalten als der andere – denn damit wäre der Fortbestand der kooperativen Partnerschaft gefährdet. Dieses Verhalten ist auf wenige Arten beschränkt, denn es setzt die Fähigkeit voraus, vorherzusagen, wie der Partner reagieren wird, wenn er weniger erhält, und welche Auswirkung dies auf die Beziehung haben könnte."
Bisher konnte eine solche "Abneigung gegen Ungerechtigkeit zweiter Ordnung" eindeutig nur bei unseren engsten Verwandten, den Schimpansen, nachgewiesen werden. Die Forscher testeten dazu die Tiere im Labor mit Spielen, mit denen Ökonomen in ähnlicher Weise das Verhalten menschlicher Akteure in wirtschaftlichen Beziehungen untersuchen.
Von jeweils zwei Schimpansen erhielt einer die Aufgabe, sechs Leckerbissen untereinander aufzuteilen. Dabei konnte er den Vorrat entweder in zwei gleiche Portionen teilen oder seinem Partner nur einen Leckerbissen anbieten und die anderen fünf behalten. In einer verschärften Spielvariante – bekannt als das "Ultimatumspiel" – gingen jedoch beide leer aus, wenn der zweite Schimpanse das Angebot nicht akzeptierte. Der Versuch ergab, dass die Tiere sich – ganz genauso wie menschliche Kleinkinder – in der Mehrzahl der Fälle für die faire Aufteilung entschieden, wenn sie auf die Kooperation des Partners angewiesen waren.
Vorstufe menschlicher Fairness
Brosnan und de Waal nehmen an, dass die Fähigkeit, Annahmen über die Zukunft zu bilden, das Vermögen, sich in den Partner hineinzuversetzen, und die emotionale Kontrolle, um auf kurzfristige Gewinne zu Gunsten langfristiger Vorteile verzichten zu können, schon bei den gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Schimpanse vor mehr als 6 Millionen Jahren angelegt waren. Die Autoren sehen darin eine Vorstufe unseres Gerechtigkeitsempfindens.
"Wir gehen davon aus, dass die Evolution dieses Verhaltens die Entwicklung eines menschlichen Sinns für Fairness möglich gemacht hat, der auf Gleichberechtigung nicht um ihrer selbst willen abzielt, sondern um dauerhafte Kooperation zu ermöglichen."
Die Forscher wollen als nächstes noch genauer untersuchen, welchen Einfluss der soziale Status von Tieren auf ihre Fairness hat. Sie vermuten, dass Großzügigkeit auch die Reputation eines Individuums in der Gruppe steigert. Für Menschen haben zahlreiche Studien gezeigt, dass sie sich sozialer verhalten, wenn sie wissen, dass sie dabei beobachtet werden. Ob Tiere dies ebenfalls im Blick haben, schreiben Brosnan und de Waal, sei bisher ungeklärt.
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