Premiere für das Filmuniversum

Von Josef Schnelle · 01.09.2007
Die Idee, im Kino Geschichten zu erzählen, die größer und unwahrscheinlicher sein sollten als das Leben selbst, stammt von dem Schausteller und Illusionisten George Méliès. Der Franzose erbaute dazu das erste Filmstudio mit bemalten Pappkulissen. Sein berühmtester Film zeigte den begeisterten Zuschauern eine fantastische "Reise zum Mond".
Anfangs war das Kino eine Wahrheitsmaschine. Die kurzen Filme der Gebrüder Lumière Ende des 19. Jahrhunderts zeigten in bewegten Bildern die Wirklichkeit. Dann kam ein freundlich lächelnder Herr, der eben das Theater des Zauberers Robert Houdin übernommen hatte und entdeckte, dass das Kino nicht nur Dinge zeigen konnte, die es gab, sondern auch sehr gut geeignet war, ganz neue Bildwelten zu entwickeln. Um sein Zaubertheater ein wenig aufzupeppen, drehte er eigene Filme. Ein Zufall half ihm dabei, die noch junge Filmkunst zu revolutionieren. So erzählt es jedenfalls George Méliès 1907 in seinem Buch "Les vues cinématographiques":

"Wollen Sie wissen, wie mir die Idee kam, in der Kinematographie Tricks zu verwenden? Es war eine Panne des Apparats, in dem der Film oft zerriss oder hängen blieb und nicht weiter laufen wollte. Als ich eines Tages die Place de L’Opéra photographierte, dauerte es eine Minute, um den Film wieder frei zu bekommen und die Kamera wieder in Gang zu setzen. Während dieser Minute hatten die Passanten, die Omnibusse, Wagen sich natürlich weiter bewegt. Als ich mir den Film vorführte, sah ich an der Stelle, wo die Unterbrechung eingetreten war, plötzlich einen Omnibus der Linie Madeleine-Bastille sich in einen Leichenwagen verwandeln und Männer zu Frauen werden. Der Trick war gefunden und zwei Tage später begann ich damit, Männer in Frauen zu verwandeln und Dinge plötzlich verschwinden zu lassen."

Schon 1896 drehte Méliès 78 Kurzfilme für sein Theaterprogramm, auch falsche, unwahre Wochenschauen, mit denen er die Aktualitäten aus aller Welt seines Konkurrenten Lumière auf die Schippe nahm. 1902 wagte er sich dann an den ersten langen phantastischen Film der Filmgeschichte: "Die Reise zum Mond". Der Film wurde damals ungewöhnliche 260 Meter lang, also rund 16 Minuten, und erlebte am 01. September 1902 seine Uraufführung. Méliès spielte selber darin mit und veränderte augenblicklich das ganze Filmgeschäft, das noch auf Jahrmärkten zu Hause war.

George Méliès behauptete, die Mondromane von Jules Verne und H.G. Wells als Vorlagen benutzt zu haben und erfand damit neben dem Science-Fiction-Film noch ein Genre: die Bestsellerverfilmung. Tatsächlich hatte der Film mit den Vorlagen nicht viel gemein. In Badekostümen schieben trippelnde, spärlich bekleidete Schönheiten die Rakete vor gemaltem Hintergrund in eine gigantische Kanone und schwenken dazu die Trikolore. Den Mond trifft das Projektil fast ins Zwinkerauge eines großen Mondgesichts, das wie ein Sahnekuchen wirkt. Auf dem Mond müssen sie sich gegen gemeine Riesenameisen zur Wehr setzten – im Gehrock und mit dem Regenschirm als wirkungsvollster Waffe. Ein Klaps damit verwandelt die Bösewichte in qualmendes Nichts. Im Unterschied zu Lumière, der seine Kameraleute einfach drehen lassen konnte, musste Méliès für seine Filme auch schon exakte Drehbücher verfassen. Ein Auszug aus "Die Reise zum Mond":

""1. Auf dem Mond. Die Rakete befindet sich am Rand eines Überhangs, und die von den Seleniten verfolgten Astronomen stürzen auf sie zu. Professor Barbenfouillis ergreift ein Tau und lässt so die Rakete ins Leere stürzen. (7 Sekunden)
2. Im Weltraum. Die Rakete befindet sich im freien Fall. (2 Sekunden)
3. Über dem Meer. Die Rakete taucht ins Wasser ein. (2,5 Sekunden)
4. Auf dem Meeresboden. Die Rakete berührt den Grund und beginnt, langsam wieder aufzusteigen. (8 Sekunden)"
"

Auf die Nachfrage eines Filmfans leugnete ein humorloser NASA-Mitarbeiter noch 1985 jegliche Urheberschaft Méliès für die "Splashdown"-Landemethode der Mercury-Kapseln, die im Zitat von 1902 doch schon ziemlich genau beschrieben wird. Méliès Bedeutung für die Filmgeschichte als Urvater des Steven-Spielberg-Filmuniversums mit seinen phantastischen Star-Wars und Saurierwelten ist lange Zeit ebenso unterschätzt worden wie sein Erfindungsreichtum als Urvater der erzählerischen Form im Kino.