Postkarten aus Athen (5)

Die Geister von Athen

Von Andreas Schäfer · 23.01.2015
Gespenster umgeben den selbsternannten Untergrund-Dichter Petros. Von diesen berichtet der Autor Andreas Schäfer in der Rubrik Originalton. Auf Postkarten aus Athen versucht er, die Atmosphäre der Stadt vor der Wahl am Sonntag einzufangen.
Athen ist eng. So eng, dass Feindschaften über Generationen gepflegt werden. Kolonaki zum Beispiel am Fuße des Lykavittos, das Viertel der Boutiquen und Juweliere, der Fernsehköche, Moderatoren und Starlets. Auch wenn viele Geschäfte inzwischen leer stehen, in den Cafés an der Platia Kolonakiou sieht man sie noch immer: die Frauen mit den großen Sonnenbrillen und den sperrigen Gucci-Tüten (die allerdings, wie Eingeweihte behaupten, größtenteils leer sind).
Nur wenige hundert Meter entfernt liegt Exárchia, das Viertel der Buchhandlungen, Druckereien und Anarchisten oder, wie Petros gern genannt werden möchte, Underground-Dichter. Petros ist Anfang dreißig, er sitzt in einem Café in der Nähe der Plateia Exarchiou, griechischer Kaffee für einen Euro. Mit seiner Vespa bräuchte er nicht einmal zwei Minuten nach Kolonaki, aber nach Kolonaki würde er niemals fahren, aus Prinzip nicht.
Eine einzige Schleimerei
Kolonaki und all die anderen Bezirke der Reichen oder angeblich ehemals Reichen liegen auf der anderen Seite eines unüberbrückbaren Abgrunds, auf der Seite des korrupten Establishments. Petros ist sehr sympathisch, er spricht viel, aber nicht in ein Mikrofon, aus Prinzip nicht. Er veröffentlicht seine Kurzgeschichten auch nicht in einem Publikumsverlag, sondern bringt die kleinen Bändchen selbst unter immer neuen Pseudonymen heraus und lässt sie in drei oder vier Buchhandlungen vertreiben. Wir bleiben hier unter uns, sagt er. Im versteckten, im unsichtbaren Athen.
Hier wohnt er, hier arbeitet er als Bote für einen Verlag, hier trifft er die immer gleichen Freunde. Bei den anderen, also auf der Seite des Establishments, geht es doch nur um Erfolg und Eitelkeit. Die lassen ihre Bücher sogar zu Rezensenten schicken! Schäbig! Eine einzige Schleimerei. Über Politik redet er nicht. Das führt eh zu nichts. Dafür über die Vergangenheit. Sein Großvater war Kommunist. Er zeigt auf die nächste Straßenkreuzung.
Karte eines geheimen Athens
In den Dezembertagen 1944, als nach Abzug der Deutschen Wehrmacht blutige Kämpfe zwischen den linken und bürgerlichen Widerstandsgruppen ausbrachen, verlief genau dort die Frontlinie. Überall Stacheldraht. Er erzählt von dem Tunnel, den die Linken gegraben hatten, um das Hotel Grande Bretagne und darin den Britischen General Scobie in die Luft zu sprengen. Die Aktion wurde abgeblasen, weil auch Churchill sich zum Zeitpunkt des Anschlags im Hotel aufhielt.
Er nennt Straßennamen, markiert Viertel, zeichnet die Verschiebungen der Kampflinie in die Luft, die Karte eines geheimen, für ihn noch immer gegenwärtigen Athens. Er lächelt, umgeben von seinen Gespenstern. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mir fällt ein, dass die ARD-Korrespondenten für ihre Dreisatz-Wasserstandsmeldungen immer auf der Dachterrasse des Grande Bretagne stehen. Die Dachterrasse des Grande Bretagne ist ideal, sie liefert perfekte Fernsehhintergründe. Entweder die Akropolis oder das Gebäude der Verfassung mit skandierenden Demonstranten davor. Ein Schwenk genügt.

Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt eine tägliche Rubrik unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftsteller bitten. In dieser Woche stammen sie von dem Berliner Schriftsteller Andreas Schäfer.

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