Porträts

Wir sind alle mitverantwortlich

Von Günther Wessel  · 19.03.2014
Das Unglück von Fukushima riss mehr als 18.000 Menschen in den Tod. Vom Leben derer, die durch den Atom-Super-GAU ihre Heimat verloren, erzählt die österreichische Journalistin Judith Brandner jetzt in zwölf einfühlsamen Porträts.
Da ist Sachiko Sako, ehemalige Biobäuerin, die ihren Hof aufgeben musste und die anfangs optimistisch für den Atomausstieg kämpfte und heute resigniert feststellt, dass in Japan die Interessen der Wirtschaft alles dominieren. Heute lebt sie mit nur einem ihrer fünf Kinder in einem unschönen Hausblock in Fukushima-Stadt. Doch aufgeben will sie nicht! Da ist der Komponisten Takehito Shimazu, dessen Kompositionen sich nur noch um die Katastrophe drehen und der lieber getrennt von seiner Familie lebt, als seine Studenten an Universität in Fukushima zu verlassen.
Da ist die ehemalige Waldorfkindergärtnerin Sadako Monma, die ihren Kindergarten schließen musste, weil es keine Kinder mehr gibt. Oder da ist der Arzt und Umweltaktivisten Ryohei Suzuki, der seine Stelle als Botschaftsarzt in Wien aufgab, um im Krankenhaus von Minamisoma arbeitet – nur 23 Kilometer vom ehemaligen Atomkraftwerk entfernt. Entstanden sind so zwölf intensive, mitfühlende Geschichten, die von ihren klugen Beschreibungen leben und doch schmerzhaft deutlich machen: Die Katastrophe hat nicht nur eine ganze Region zerstört, sondern auch die Menschen schwer emotional gezeichnet und viele Familien zerrissen.
Große Gebiete für Rücksiedler dekontaminieren
Mehr als 150.000 Menschen leben heute noch als Nuklearflüchtlinge in Japan, fern der "Insel des Glücks", denn das bedeutet Fukushima auf Japanisch. Doch es sollen weniger werden, geht es nach den Plänen der japanischen Regierung. Denn die will große Gebiete für Rücksiedler dekontaminieren. Das primäre Ziel dabei: Der Energiekonzern Tepco, Betreiber der Atomkraftwerke, könnte dann den ehemaligen Bewohnern die monatliche Rente streichen, die ihnen jetzt noch als Vertriebene zusteht.
Dekontaminieren, das bedeutet, die Häuser abzuwaschen, die Bäume zu entlauben oder zu fällen, das Erdreich abzutragen und das verseuchte Material in Plastiksäcke zu packen, die dann entweder am Straßenrand lagern oder einfach nur vergraben werden. Judith Brandner hat all das mit eigenen Augen gesehen: Sie ist durch halb bewohnte Dörfer gefahren, in denen Wildscheine und Affen die Gärten verwüsten und in denen die wenigen Menschen vor Ort immer einen Geigerzähler mit sich führen.
Heute wissen die Menschen aus Fukushima, dass weder die Regierung noch der Stromkonzern Tepco aus der Atomkraft aussteigen werden. Viele der Interviewten vermuten, dass Messdaten verfälscht werden – offizielle Messgeräte würden nur die Hälfte der tatsächlichen Radioaktivität registrieren. Und so zeigt sich: Die offiziellen Stellen haben nichts aus früheren Umweltkatastrophen gelernt. Schon in den 1950er Jahren, als der Chemiekonzern Chisso quecksilberhaltiges Abwasser in die Bucht von Minamata leitete, gab die japanische Regierung nur häppchenweise Information preis, verschwieg die Gefahren und lehnte jede Verantwortung ab. Doch eins ist anders: Die Menschen, die Judith Brandner in ihrem Buch vorstellt, hat Fukushima gelehrt, sich zukünftig mehr einzumischen.

Judith Brandner "Zuhause in Fukushima. Das Leben danach: Porträts."
Mit Fotos von Katsuhiro Ichikawa
Kremayr & Scheriau, Wien 2014
160 Seiten, 22 Euro

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