Populistisch, nicht einmal selbstkritisch

Von Helmut Böttiger · 17.01.2011
In den Medien herrscht ein breiter Konsens darüber, dass populistische Strömungen eine politische Gefahr darstellen. Merkwürdigerweise hat das keine Auswirkungen auf die Literaturkritik. Hier ist der Populismus schon weit vorangeschritten.
Begonnen hat es damit, dass die Chefredakteure der Tageszeitungen plötzlich Parolen verbreiteten wie: Ein Artikel im Feuilleton müsse so geschrieben werden, dass ihn auch die Leser des Lokalteils oder des Sportteils lesen wollen.

Beispiel: Thomas Lehrs Roman "September. Fata Morgana" verzichtet aus sehr einleuchtenden ästhetischen Gründen auf die üblichen Satzzeichen. Er handelt vom Gegensatz zwischen Orient und Okzident und hebt ihn untergründig auf – durch einen frei schwingenden Rhythmus, der an die Epen Homers genauso gemahnt wie an die Märchen aus 1001 Nacht. Diese formale Entscheidung geht zwingend aus dem Inhalt hervor.

Eine Literaturkritik, die auf Augenhöhe mit dem Text ist, müsste das selbstverständlich reflektieren. Umso größer ist die Verblüffung, wenn Kritiker in wichtigen Presseerzeugnissen sich durch das Fehlen gewohnter Satzzeichen von vornherein provoziert fühlen und dies als puren Nonsens empfinden, als angestrengtes Bestreben nach einer überkommenen "Avantgarde".

Dabei halten sich Thomas Lehrs formale Anforderungen in recht überschaubaren Grenzen. Mit "Avantgarde" hat dieser Roman überhaupt nichts zu tun. Der Kritiker der Wochenzeitung "Die Zeit" beschränkt sich jedoch ausschließlich darauf, sich über den Verzicht auf die üblichen Satzzeichen lustig zu machen. Und im "Spiegel" wirft der Artikelschreiber dem Autor vor, seinen Roman "derart hermetisch anzulegen, dass er ein großes Lesepublikum von der ersten Zeile an ausschließt".

Dahinter steckt eine Ideologie, die sich als wissenschaftliche Autorität tarnt. Sie entstammt akademischen Richtungen, die nicht mehr Grundlagenforschung betreiben, sondern sich als "angewandte Studiengänge" definieren, wie Medien- und Kommunikationswissenschaften. Man setzt sich dabei systematisch über die einfache Erkenntnis hinweg, dass an literarischen Fragen immer nur eine Minderheit interessiert ist. Eine Minderheit, die ernst genommen und nicht unterfordert werden will.

Der einzelne Leser ist der einzige, den es gibt. Doch er tritt zusehends gegenüber einem erfundenen, statistisch scheinbar ermittelten "großen Lesepublikum" in den Hintergrund. Die selbsternannten "Medienexperten" sind das eigentliche Unheil, wenn über Literatur und Kunst verhandelt wird. Sie gehen allen Ernstes davon aus, dass ein trendiger Lifestyle- und Magazin-Journalismus alles abdecken könnte. Das zielt auf den Instinkt des saturierten Konsumenten. Vor allem ist auch Humor etwas ganz anderes als das allgegenwärtige Kicher- und Comedy-Gebot.

Der "mündige Bürger" existiert gerade in Fragen der Kunst nicht schon per se. Gerade auch hier ist eine gewisse Schulung und Bildung notwendig. Einer wie Arno Schmidt hat früh aus den Parolen der Nazis ("Kunst dem Volke") seine Konsequenzen gezogen. Er stellte fest, dass sich der Künstler keineswegs dem Volk annähern müsse. Ganz im Gegenteil: Das Volk, jedermann, habe sich "gefälligst zur Kunst hinzubemühen".

Heute würde solch ein Satz sofort als elitär diffamiert werden. Dabei handelt es sich um eine Binsenweisheit. Große Kunst widersetzt sich immer einer suggestiven Konsens- und Kommerzkultur. Und genau das war auch immer der Anspruch der Literaturkritik.

Helmut Böttiger, Dr. phil., geboren 1956 in Creglingen/Baden-Württemberg. Studium in Freiburg, Dissertation über DDR-Literatur 1985. Lebt nach verschiedenen Redaktionstätigkeiten seit 2002 als freier Autor in Berlin. Ernst-Robert-Curtius-Förderpreis für Essayistik 1996. Wichtigste Buchveröffentlichungen: Ostzeit-Westzeit. Aufbrüche einer neuen Kultur, München 1996. Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschen Gegenwartsliteratur, Wien 2004. Celan am Meer, Hamburg 2006. Ausstellungskatalog "Doppelleben. Literarische Szenen aus Nachkriegsdeutschland", Darmstadt und Göttingen, 2009.