Popliteratur aus dem 19. Jahrhundert

Moderation: Joachim Scholl · 01.02.2012
Nächste Woche begeht die literarische Welt den 200. Geburtstag von Charles Dickens. Welchen seiner Romane man heute unbedingt lesen sollte und was Dickens mit Stephen King zu tun hat, erklärt der Schriftsteller Dietmar Dath.
Joachim Scholl: Der Schriftsteller Dietmar Dath ist Jahrgang 1970 und er muss ein Arbeitstier sein. An die 30 Bücher gibt es von ihm: Romane, Erzählungen, Essays, Sachbücher, ein halbes Dutzend Theaterstücke, bei Dath geht es inhaltlich um Science Fiction, Darwin, Gentechnik, Fantasy, Heavy Metal – jedenfalls ist es literarische Avantgarde, und man kommt demnach eigentlich nicht auf den Gedanken, dass solch ein hochtouriger Schriftsteller etwas mit Charles Dickens anfangen kann, dem Klassiker und Publikumsliebling des 19. Jahrhunderts. Denkste! Guten Tag, Herr Dath!

Dietmar Dath: Guten Tag, hallo!

Scholl: Sie haben verschiedentlich darüber geschrieben, wie sehr Sie ausgerechnet Charles Dickens fasziniert. Wie kommt es?

Dath: Na, da gibt es so viele verschiedene Gründe, da müssen wir uns jetzt welche aussuchen. Also fangen wir mal damit an, was Produktivität angeht. Sie haben mich ja gelobt, aber ich bin natürlich ein Witz gegen Charles Dickens, rein von der Quantität gesehen alleine schon. Dann was die Bandbreite angeht der Felder, die er beackert hat und von denen ich glaube, dass sie tatsächlich sehr viel miteinander zu tun haben, also von Gerichtsreportagen, die er gemacht hat, über irgendwelche Essays zu fantastischen Erzählungen bis zu großen realistischen Romanen. Aber der eigentliche Witz ist, dass, wenn man ihn nur als Sozialrealisten würdigt, wie das zum Beispiel auch Friedrich Engels gemacht hat, dem ich sonst ja vieles glaube, dann sieht man eine Dimension zu wenig, weil er unter Realismus tatsächlich nicht das verstanden hat, was man immer so beigebracht kriegt, wenn es heißt, im 19. Jahrhundert gab es diese Epochen Naturalismus und Realismus, nämlich einfach das Abschildern von Sachen. Sondern wenn Sie an die Weihnachtsgeschichte denken oder an die Plädoyers in "Hard Times" gegen eine Erziehung, die sich nur an so Positivismus – Zahlen, Fakten, Namen und so – orientiert, dann war er jemand, der eben gewusst hat, dass zu einer realistischen Wiedergabe des sozialen Lebens und der Dinge, die um ihn rum passieren, auch gehört, dass die Leute sich dazu irgendwelche Vorstellungen, die oft auch fantastischer Natur sind, machen, und dass niemand die soziale Welt aushalten würde, wenn es nicht begleitet würde von irgendwas, was man dazu empfindet, denkt, und so weiter. Und das hat er tatsächlich, wie ich finde, noch genauer abgebildet als Balzac, der auch schon nicht schlecht war.

Scholl: Also mit Fantastik, also Fantasy, bringt man Dickens gemeinhin wenig zusammen. Sie haben jetzt schon die Weihnachtsgeschichte erwähnt, Sie denken da an die Geister…

Dath: Ich denke an die Geister, ich denke an die Tatsache, dass die Geister die Zukunft kennen, ich denke an lauter Dinge, die noch wesentlich spekulativer sind als der Durchschnitt von so irgendwie dem, was man heute so als Fantasy hat, wo es ja höchstens ein paar Zwerge und sonstige Dinge gibt, die aber eigentlich eingebettet sind in ein relativ simples Korsett von so mittelalterlichen oder vormittelalterlichen Gesellschaften, während Dickens diese Dinge ja zu verbinden versteht mit sehr genauen Alltagsbeobachtungen, mit Dinge, die sozusagen jeder wiedererkennen konnte, damals schon, und die, weil sie so genau auf dem Punkt sind, auch heute noch Leben haben. Er ist darin, glaube ich, der Vorläufer von Stephen King, der es eben auch schafft, irgendwelche fantastischen Geschichten in ein Amerika einzubetten, wo dann tatsächlich die Cola-Marken stimmen, die Auto-Marken stimmen, all diese kleinen Dinge stimmen, was die Durchschlagskraft der fantastischen Erfindungen und der manchmal ja auch unglaubwürdigen Plot-Wendungen, die Dickens dann hat, nur um so größer macht. Weil wenn man den Rest erkennt, wenn man das Korsett erkennt sozusagen, dann lässt man sich halt einfach mitnehmen in irgendwelche Höhen von emotionaler Energie, von Intensität, von Wendungen, mit denen irgendwie niemand gerechnet hat.

Scholl: In Salingers berühmten "Fänger im Roggen", da schreibt der Ich-Erzähler am Anfang, jetzt könnte ich von meiner Kindheit erzählen, meinen Eltern, dem ganzen langweiligen David-Copperfield-Zeug. Das ist so die Tonart der literarischen Rebellen, mit der man über lange Zeit Charles Dickens begegnet ist. Also weg mit diesem ollen Realismus, von der Wiege bis zur Bahre. John Irving hat dem noch Tribut gezollt, weil er sagte, genau so muss man es machen. Man könnte auch sich angesichts Ihrer Literatur denken, Herr Dath, dass sie von diesem Realismuskonzept doch nicht viel gelernt haben.

Dath: Na ja, ist es ein Konzept oder ist es eine Praxis? Ich glaube nicht, dass sich Dickens jemals hingestellt hat und eine Poetologie entworfen hat, sondern was tatsächlich das Bewundernde ...

Scholl: Der hat auch nie Zeit dazu gehabt.

Dath: ... ja, genau, und das ist aber der entscheidende Punkt. Dieses nie Zeit dazu gehabt haben hat natürlich wahnsinnig viel damit zu tun, wie man heute Literatur, wie ich finde, produzieren sollte. Das heißt, der hat sich halt eingelassen mit einer Zeitsituation, also der hat sich nicht irgendwo in eine Hütte zurückgezogen und hat gesagt, ich mache mir jetzt irgendwelche tiefen Gedanken, sondern er stand tatsächlich in den Prozessen drin. Und wenn man beispielsweise von irgendwelchen Sachen, die es jetzt vor – zehn, 15 Jahre ist es auch schon wieder her – in Deutschland gegeben hat, sagt, das sei Popliteratur, obwohl es in Wirklichkeit halt die ganz normale Nabelschau von adoleszenten jungen Männern ist, wo halt mal ein paar Platten vorkommen und ein paar Filme, dann ist es lächerlich, gemessen daran, dass eben Leute wie Dickens und Balzac tatsächlich Popliteratur gemacht haben, die sich nämlich damit auseinandergesetzt hat, was ein Feuilleton-Roman ist, was ein Serienerscheinen bedeutet und so weiter.

Also man staunt ja wirklich, wenn man sieht, wie der – also wenn man das jetzt neben so DVD-Boxen von beliebten Serien heute hält und deren Architekturen, dann ist das ja wirklich makellos –, wie der zu einem Zeitpunkt, wo er eigentlich noch gar nicht wissen konnte, wie das Ding ausgeht, Fußangeln gelegt hat und praktisch da riesige Landschaften von so – mir kommt das immer vor wie so Dominosteine, die jemand aufbaut irgendwie auf einer Größe, weiß ich nicht, des Landes Hessen oder so und dann nach 700, 800 Seiten den letzten Dominostein anschnippt, und dann hast du noch mal so diese 30 Seiten Katastrophe, wo Alles zu Allem kommt und tatsächlich sich ineinanderfügt und die Richtigen sich kriegen und die Richtigen sterben und so weiter. Also wer da nicht staunt, der staunt auch nicht bei den Alpen.

Scholl: Deutschlandradio Kultur – Charles Dickens, zum 200. Geburtstag. Wir feiern schon mal voraus mit dem Schriftsteller Dietmar Dath. Sie haben Charles Dickens einmal als einen der reichsten Sozialrealisten aller Zeiten bezeichnet. Das Wort ist schon gefallen, Sie haben es gleich in Verbindung mit Friedrich Engels gebracht. Was macht denn für Sie Dickens Sozialkritik aus, Herr Dath?

Dath: Ich weiß gar nicht, ob es Kritik ist, es ist einfach hingucken, und die Kritik ergibt sich dann eventuell im Kopf. Was er macht, ist, er zeigt im Grunde, dass selbst die bösesten Figuren bei ihm – also so ein Uriah Heep oder einfach die Drecksäcke, die er hat ...

Scholl: Uriah Heep, das ist der schmierige Anwaltsgehilfe aus David Copperfield – nicht die Band, wie man jetzt vielleicht verstehen könnte.

Dath: Nein, die hat das ja absichtlich so angezogen, genau.

Scholl: Die hat das da genommen.

Dath: Weil ja Bands immer gerne, wenn sie ein bisschen schwerere Musik machen, sich irgendeinen bösen Namen besorgen, und da ist vielleicht ein literarischer nicht falscher, als wenn man sich Satan nennt oder Knochengeist. Jedenfalls, der Witz ist, dass Leute wie Heep bei ihm tatsächlich nicht einfach so zu ziffern sind, die halt von tief innen her das Böse ausdünsten, sondern dass in der Beziehung zu seiner Familie, in der Beziehung zu der Familie, wo er da arbeitet, rauskommt, dass er eigentlich nicht viel böser ist, als er muss. Das heißt, dass er sozusagen so böse ist, wie die Konstellation ist, in der er sich irgendwie so ein Plätzchen ergattern will, und damit ist natürlich viel über die Konstellation gesagt und vielleicht Genaueres und Besseres, als wenn man ein Traktat schreiben würde, die Arbeitsverhältnisse im Jahre sowieso in der Stadt sowieso sind irgendwie nicht gerecht.

Scholl: George Bernard Shaw hat mal gesagt, einige Romane von Dickens seien aufrührerischer als "Das Kapital" von Karl Marx. Stimmen sie dem ... ?

Dath: Damit wäre Karl Marx sicherlich einverstanden gewesen, ...

Scholl: Sie stimmen zu, ja?

Dath: ... und deswegen muss ich auch nichts dagegen sagen, weil Karl Marx das ja auch nicht geschrieben hat, um aufzurühren, sondern um ein paar Sachen zu erklären, die man dann tatsächlich mit Literatur nicht mehr erklären kann, weil Literatur beschreibt.

Scholl: Aber ich habe bei dieser Bezeichnung, bei diesem "der reichste Sozialrealist" – das haben Sie mal in einem Interview gesagt. Ich habe noch gedacht: Ob Herr Dath das vielleicht sogar doppeldeutig meint? Weil Charles Dickens, muss man ja sagen, wurde auch einer der reichsten Schriftsteller seiner Epoche. Er hat, glaube ich, ein Vermögen von umgerechnet Millionen von Pfund in unserer heutigen Währung hinterlassen – für einen Schriftsteller damals, für einen freien Schriftsteller ungeheuer –, und gleichzeitig hat er sozusagen den Pauperismus, die Armut seiner Zeit, die Schere zwischen Arm und Reich, gegeißelt wie kein Zweiter. Haben Sie es doppeldeutig gemeint, er ist der Reichste im Sinne von reichhaltig, aber er war eben auch stinkreich?

Dath: Ich habe es dreifach gemeint: Das Eine ist tatsächlich der große Reichtum seiner Schilderungen, das Andere ist der große Reichtum, den er für sich erlangt hat, und das Dritte ist eine Anspielung auf einen Marx-Satz, der gesagt hat: Richtiger, wirklicher Reichtum, echter Reichtum ist eigentlich nicht Reichtum an Sachen, sondern an menschlichen Beziehungen. Und bei wenigen Schriftstellern kommen so viele verschiedene menschliche Beziehungen vor wie bei Dickens. Aber was diese Millionen noch mal angeht, die er verdient hat, ist das Interessante ja, er hat auch als einer der ärmsten angefangen. Das heißt, Familie, Schuldgefängnis, also alles, was man bei David Copperfield ja dann auch nachlesen kann, und das heißt – und das ist wirklich ein seltener Glücksfall –, da der Roman ja eine Gattung ist, die auf Totalität raus will, also die tatsächlich alle Ecken und Enden zeigen will und wirklich auf eine Welt raus will – selbst, wenn sie einen engen Kreis beschreibt, ist dieser Kreis aber wirklich als eine Welt gemeint –, ist es natürlich sehr gut, wenn der Mensch, der den Roman schreibt, sowohl das Schuldgefängnis kennt wie die dicke Brieftasche, die er am Ende hatte und die er dann ja sozusagen auch schon in der Mitte hatte.

Und diesen Querschnitt gekannt zu haben, erlaubt es ihm natürlich, ja, die Dinge vielleicht gar nicht unbedingt schärfer zu geißeln, aber genauer anzugucken, während er sie geißelt. Und wenn jemand geißelt, der weiß, wovon er redet, dann schlägt das halt auch anders durch, als wenn jemand geißelt, weil er irgendwie ganz generell ein Menschenfreund ist. Er hat zum Beispiel in Gestalt dieser Frau Jellyby in dem "Bleak House" sogar ein relativ gnadenloses Porträt von so philanthropischen Leuten gezeichnet. Das heißt, er hat in den Sozialrealismus und die Sozialkritik sogar das Moment reingenommen, dass es viele Leute gibt, die gesellschaftskritisch sind und dabei überhaupt nicht da drauf reflektieren, wer sie eigentlich selber sind und was sie selber tun, weil während die Frau irgendwelche Briefe schreibt, die irgendwelchen Minderbemittelten in anderen Erdteilen irgendwelche Spenden sichern sollen, verkommen ihre eigenen Kinder auf der Treppe. Das heißt, er hat die Kritik sozusagen bis zu einem Punkt weiterverfolgt, wo sogar kritikabel wird, was Leute machen, die glauben, mit ein bisschen Kritik ist man aus dem Schneider.

Scholl: Was glauben Sie denn, Herr Dath, was würde Charles Dickens heute schreiben?

Dath: Ich weiß es nicht, ob Charles Dickens heute noch mal sozusagen in den reichen Ländern selber hervorgebracht werden würde oder ob sozusagen diese Art von Karriere noch mal möglich wäre. Vielleicht wäre er ja erstens eine Frau und zweitens aus irgendeinem etwas ärmeren Land, das heißt, möglicherweise wäre Charles Dickens heute Arundhati Roy.

Scholl: Zum Schluss, Herr Dath, unbedingt noch Ihr Tipp: Was sollten wir lesen? Es ist Gott sei Dank fast alles übersetzt von seinen großen 14 oder 15 Romanen, sind es, glaube ich, sogar, jetzt mal jenseits von Oliver Twist und David Copperfield, was halten Sie für sein bestes Buch?

Dath: "Bleak House".

Scholl: "Bleak House"?

Dath: "Bleak House" halte ich überhaupt für eines der zehn, 15 besten Bücher, die es gibt.

Scholl: Charles Dickens ist mit 58 gestorben, und man mutmaßt, dass er sich überarbeitet und totgearbeitet hat. Herr Dath, Sie sehen auch so aus, wenn ich ihr Werk anschaue, was Sie in Ihren 42 Jahren jetzt schon geleistet haben. Nehmen Sie sich den nicht zum Vorbild.

Dath: Ich gucke mal. Man kann sich Leute ja auch auf verschiedenen Ebenen zum Vorbild nehmen.

Scholl: Nächste Woche begeht die literarische Welt den 200. Geburtstag von Charles Dickens, und die erste Gratulation, die kam heute von dem Schriftsteller Dietmar Dath. Ich danke Ihnen, Herr Dath!

Dath: Vielen Dank, danke schön! Tschüss!

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