Polnischer Hamlet und Litauischer Sturm

Von Stefan Keim · 02.07.2012
Die Osteuropäer fielen auf beim Shakespeare-Festival in Neuss: Der Hamlet des polnischen Regisseurs Radoslav Rychcik ist roh und kraftvoll - und etwas nervig. Die gelungene Sturm-Adaption "Miranda" des Litauers Oskaras Korsunovas dringt zum traurigen Kern des Klassikers vor.
Yorick begrüßt das Publikum. Yorick, der Spaßmacher, der Prinz Hamlet als Kind oft zum Lachen brachte. In William Shakespeares Stück kommt er eigentlich nur als Schädel vor, in der berühmten Totengräberszene des vierten Aktes. Doch in Radoslav Rychciks Inszenierung aus dem polnischen Kielce ist manches anders als gewohnt. Das Teatr Zeromskiego lieferte eine der ungewöhnlichsten Aufführungen beim Shakespeare-Festival in einem nachgebauten Globe-Theater in Neuss.

Jedes Jahr holen die Festivalmacher neben den populären und oft komödiantischen Aufführungen britischer und deutscher Ensembles internationale Aufführungen nach Neuss. In diesem Jahr war erstmals ein afghanisches Theater zu Gast am Niederrhein. Die Aufführungen laufen mit Übertiteln, ein bisschen Technik ist erlaubt im Globe von heute.

Radoslav Rychcik erzählt "Hamlet" als Familiengeschichte, ohne politische Anspielungen. Ausgestopfte Tiere dominieren das Bühnenbild, was an das Horrormotel in Alfred Hitchcocks "Psycho" erinnert. Dänemark wird von einer ziemlich seltsamen Sippe regiert, die stets bereit ist, plötzlich und brutal übereinander herzufallen. Oft wird gebrüllt, fast die gesamte Aufführung ist mit einem brodelnden, unruhigen Soundtrack unterlegt. Rychcik lässt sich viel Zeit für die Vorgeschichte und erledigt die Metzeleien des vierten und fünften Aktes rasant. Eine kraftvolle und anregende Aufführung, aber auch roh und manchmal etwas nervend.

Politischer ist der Denkansatz, mit dem sich der litauische Regisseur Oskaras Korsunovas Shakespeares "Sturm" nähert. Bei Prosperos Exil auf einer einsamen Insel hat er die Verbannung von Intellektuellen aus der Zeit in Erinnerung, als Litauen Teil der Sowjetunion war. Die Bühne ist vollgestopft, wie man es aus Inszenierungen von Alvis Hermanis kennt. Mit Büchern vollgestopfte Regale biegen sich, ein Radio dudelt, ein Fernseher flimmert. Zwei grandiose Schauspieler erzählen das ganze Stück als Wettkampf zwischen Mann und Frau.

Prospero mutiert zum Monster Caliban, der mit nacktem Oberkörper die Frau vergewaltigen will. Dann verwandelt er sich in einen überkandidelten Dandy, die erotische Traumvorstellung Mirandas. Die sitzt am Anfang gelähmt im Stuhl und kann nur undeutlich sprechen. Doch wenn sie sich in den an Prospero gebundenen Luftgeist Ariel verwandelt, erscheint sie plötzlich hinter dem Fenster oder in einer Kiste, das Gesicht zu einer Grimasse verzogen, von Ton- und Lichteffekten wie im Horrorkino unterstützt. Filmschnittartig wechseln die Szenen, ebenso die Stimmungen vom Grauen bis in die Farce. Das hyperrealistische Bühnenbild wird zur Traumlandschaft, in der schließlich alles möglich ist. Sogar die Freiheit.

"Miranda" nennt Oskaras Korsunovas seine Adaption des "Sturm", die nach einem freien Beginn viel Originaltext liefert und die komplette Geschichte erzählt. Während der polnische "Hamlet" doch etwas oberflächlich bleibt, ist diese litauische Aufführung ein gelungener Versuch, in freiem Umgang mit einem Klassiker zu dessen Kern vorzudringen. Alles Märchenhafte und Leichte fehlt, Verzweiflung und Trauer treten hervor. Miranda-Ariel fliegt fort, doch für Prospero bleiben nur Einsamkeit, die eigene Fantasie und schließlich der Tod.

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