Polnische Autorin

Joanna Bator – Märchen, Mythos und ein Nachttopf

Die polnische Schriftstellerin Joanna Bator.
Die polnische Schriftstellerin Joanna Bator. © dpa / picture alliance / Rafal Guz
Von Jörg Plath · 22.07.2016
Die polnische Schriftstellerin Joanna Bator hat mit drei bisher ins Deutsche übersetzten Romanen "Sandberg", "Wolkenfern" und "Dunkel, fast Nacht" ihren Geburtsort Wałbrzych, das niederschlesische Waldenburg, in die Weltliteratur hineingeschrieben. Es sind ungewöhnliche Bücher.
"In the sun!" "Always!"
"Sometimes you have to find a compromise with those who don't like. But always in the sun."
Joanna Bator liebt die Sonne. Die zierliche, dabei kraftvoll wirkende Frau mit dem blonden Haar wählt im Restaurant des Schlosses Kşiąż den Gartenstuhl, der in prallem Sonnenlicht steht. Schloss Kşiąż liegt oberhalb der einstigen Bergbaustadt Wałbrzych, wo Joanna Bator aufgewachsen ist und wo ihre drei bisher ins Deutsche übersetzten Romane spielen, die die polnische Provinz südwestlich von Wrocław, Breslau, nahe der Grenze zu Tschechien und Deutschland, in der Weltliteratur etabliert haben. Nach langen Jahren im Ausland, zuletzt in Japan und Griechenland, ist die 48-Jährige nun nach Walbrzych zurückgekehrt, in das frühere niederschlesische Waldenburg, um dem deutschen Journalisten die Vorbilder für die Romanorte zu zeigen. Bald kommen ihr bulgarischer und ihr ungarischer Übersetzer, letzterer mit Ehefrau, hinzu.
Der prächtige Zamek Kşiąż, Schloss Fürstenstein, ist ein Touristenmagnet, und der Direktor lässt es sich nicht nehmen, Joanna Bator mit Begleitung zum Kaffee einzuladen. Fürstenstein sollte wohl eines von Hitlers Hauptquartieren werden. Der Abgrund im Hof, vorgesehen als ein mit Auto benutzbarer Fahrstuhlzugang zum ausgedehnten Tunnelsystem unter Wałbrzych, musste vor Jahren zugeschüttet werden. Verängstigte Touristen beklagten sich immer wieder, just neben ihnen sei gerade eine Blume in der Tiefe verschwunden.
"Erst nach dem Umsteigen in Wrocław kam mir zu Bewusstsein, dass ich in die Stadt meiner Kindheit unterwegs war. Auf dieser Strecke gibt es keine Eilzüge mehr, Wałbrzych entfernt sich zunehmend vom großstädtischen Wrocław und dem Rest der Welt. Ich setzte mich auf einen Fensterplatz in einem alten Doppelstockwagen und tastete immer wieder nach dem Schüssel, der durch das Leder meines Portemonnaies Wärme auszustrahlen schien.
Nach Vaters Beerdigung hatte ich den Schlüssel in einen billigen Geldbeutel aus dem Indienladen gesteckt und ihn fünfzehn Jahre lang mit mir herumgetragen. (…) Mit diesem Schlüssel hatte ich die Tür des Hauses, das auf Schloss Fürstenstein blickt, hinter mir abgeschlossen und die Stadt verlassen." (S. 9, Dunkel, fast Nacht)

Weniger schön als furchtbar

Die weitläufigen Anlagen des Schloss Fürstenstein thronen über der ehemaligen Kohlestadt, der Joanna Bator in ihrem Roman "Dunkel, fast Nacht" eine düstere Geschichte andichtet: Ihre Erzählerin, die Journalistin Alicija Tabor, fährt in ihre Geburtsstadt, um nach spurlos verschwundenen Kindern zu recherchieren. Sie stößt auf einen Hexenkessel voller Chauvinismus, Nationalismus, Rassismus, Antiziganismus, Fremdenfeindlichkeit und Frömmelei. Gehetzt wird gegen Fremde – wozu manch ehrbarer Bürger auch Jesus Christus zählt, schließlich war der ja kein Pole. Alles ist in der Stadt unterirdisch miteinander verbunden: durch die zahlreichen Stollen der jahrhundertelangen intensiven Kohleförderung und durch die von Häftlingen des KZ Groß-Rosen gegrabenen Tunnel, durch weit zurückreichende historische Parallelen und ebenso langlebige neurotische Dispositionen.
Bator verschneidet den Schauerroman mit dem phantastischen, den historischen mit dem Zeitroman. Sie entdeckt im Trauma den Traum – und im Traum den Schrecken.
"Vor dem Fenster wuchs aus einem Buchenwald Schloss Fürstenstein empor. Wenn unser Vater an seinem stets von verstaubten Papier- und Bücherstapeln überhäuften Schreibtisch arbeitete, hatte er, sobald er von historischen Abhandlungen, Karten und Plänen aufsah, dieses Gebäude im Blick. Schloss Fürstenstein, wie es jetzt vor mir lag, Nebelschwaden um seine Mauern, gehörte zu den wenigen Dingen, die mir immer noch so groß und schön erschienen wie in meiner Kindheit." (Dunkel, fast Nacht, S. 27)
Weniger schön als furchtbar war und ist der poröse Untergrund Wałbrzychs. In den nach 1990 stillgelegten Stollen sammelten die Armen unter Lebensgefahr Kohle, während die Ambitionierteren, darunter der Vater von Alicija Tabor, der Journalistin, den mythischen Goldzug suchten, den Hitlers Gefolgsleute in dem Tunnelsystem versteckt haben sollen. Seit Jahren scheint seine Entdeckung immer wieder kurz bevorzustehen. Der Goldzug ist eine Goldgrube für den Tourismus und natürlich eine Steilvorlage für eine gewiefte Erzählerin.
Ein Elternhaus wie im Roman "Dunkel, fast Nacht", zudem mit schönem Blick auf Schloss Fürstenstein, gab es in der Kindheit der Autorin allerdings nicht.
"Wir befinden uns in Nowe Miasto, Neustadt, einem Stadtteil von Wałbrzych, der zur Zeit der Deutschen entstand. Damals war das ein eleganter Stadtteil, und wir stehen vor einem Gebäude, in dem ich die ersten sechs Jahre meines Lebens verbracht habe. Hier wurde ich von meinen Großeltern erzogen."

In der Erinnerung flossen Milch und Honig

Nowe Miasto liegt am anderen Ende von Wałbrzych, das auf sieben Hügeln – wie Rom, versichern Ortsansässige – erbaut und entsprechend weitläufig ist. Verstreut am Hang, gegenüber einer steil ansteigenden Wiese mit braunen Kühen, stehen dreigeschossige, sehr schmale Mehrfamilienhäuser in grauem, seit langem nicht gestrichenem Rauputz. Gleich neben den Arbeiterbehausungen erhebt sich ein prächtiges, nach Landessitte in knalligen Farben renoviertes Gebäude aus der Gründerzeit. Dunkler Schlackengrus bedeckt den Hofboden, Kinder spielen Ball neben parkenden Autos.
"Im zweiten Stockwerk habe ich damals gewohnt. Da, wo die drei Fenster sind: mein Zimmer ganz rechts, dann die Küche, eine Speisekammer und am Ende ein Badezimmer."
Die Großeltern zogen nach dem Krieg aus dem heute weißrussischen Radom nach Wałbrzych. Sie kamen aus den "verlorenen Gebieten" in die "wiedergewonnenen".
"Wałbrzych, die Stadt, in der ich geboren wurde und die ersten achtzehn Jahre meines Lebens verbrachte, ging bereits im 14. Jahrhundert ‚verloren‘. ‚Wiedergewonnen‘ wurde die Stadt im Jahre 1945, als kraft des Abkommens der Großen Troika die Gebiete östlich der Oder und Lausitzer Neisse, die vor dem Krieg zu Deutschland gehört hatten, Polen zugeschlagen wurden. (…) Polen war ein Stein auf dem Schachbrett der Großmächte: Daher wurde es zerschnitten, zerrissen und zerstückelt. Die östlichen Territorien, die von Russen besetzten polnischen Kresy – Randgebiete, wurden für die von dort vertriebenen Menschen zu Verlorenen Gebieten." (Lost Worlds, S. 115)
Die Kresy wurden zum gelobten Land der Umgesiedelten, auch bei Knechten und Mägden. In der Erinnerung flossen dort Milch und Honig – denn die Umsiedler wurden in den Häusern und Wohnungen der vertriebenen Deutschen nicht heimisch. Joanna Bators Großeltern hatten alles verloren, sogar ihre Toten, und eine Zweizimmerwohnung in der Fremde erhalten. Sie lebten in einer trüben Geisterwelt, wie sie auch die mit Joanna Bator befreundete Autorin Olga Tokarczuk oder der Essayist und Lyriker Adam Zagajewski beschrieben haben.
"Ich erinnere mich an die Gegenstände und die Möbel, die noch aus der Zeit der Deutschen stammten. Sie waren in der Wohnung geblieben, ein großer Schrank etwa. Ich liebte es, meine Zeit in ihm zu verbringen. Ich saß dort und erfand mir eine Freundin, die ich Helga nannte."
"Heute besitze ich nur noch einen Gegenstand, der sich damals in der Wohnung der Großeltern befand, einen Punschtopf. Meine Großeltern wussten nicht, was das ist und wozu er dienen sollte. Für mich war der Punschtopf sehr faszinierend. Ich habe mit ihm gespielt, meine Kleidung, meine Sachen hineingelegt, und eine Zeitlang schwamm auch ein Fisch darin."
"Dabei habe ich jahrelang nicht gewusst, welche Bedeutung der Punschtopf für mich hatte, warum er immer bei mir ist, auch wenn ich in der Welt herumreise. Jetzt weiß ich: Der Punschtopf barg meine Erzählungen."

Dritte Generation der Zuwanderer

Auch ein leeres Fotoalbum – die flüchtenden Deutschen hatten die Fotografien entnommen – gab es in der Wohnung der Großeltern. Joanna Bator hat es in ihren Roman "Sandberg", den ersten der Wałbrzych-Trilogie, aufgenommen, der von Kindheit und Jugend Dominika Chmuras in Wałbrzych erzählt. In "Sandberg" enthält das Album Aufnahmen einer unbekannten Familie aus den Kresy, den "Verlorenen Gebieten", und weil Dominika neugierig fragt, erfindet ihre Großmutter Halina Geschichten zu den Fotos, um schließlich eigene hinzuzukleben.
Die fremde Familiengeschichte wird auf phantasmatische Weise Teil der eigenen. Joanna Bator, die dritte Generation der Zuwanderer in den "wiedergewonnenen Gebieten", nähert sich durchs Geschichtenerzählen Wałbrzych an.
"Es stellte sich (..) heraus, dass die Narration, deren Fehlen ich in meiner Kindheit verspürte, in der Dunkelheit ohne mein Wissen heranreifte. Es gab dort den Geruch von Kohlenstaub, das alte Album und den Schrank." (Lost Worlds, S. 125f.)
Auf Kindheit und Jugend Dominikas in "Sandberg" folgt in Joanna Bators Wałbrzych-Trilogie der Roman "Wolkenfern" mit Dominikas Wanderjahren in Deutschland, den USA, Griechenland und einigen anderen Ländern. Dabei kreuzt sie immer wieder die Wege von Menschen, Geschichten und Dingen aus der Heimat, darunter zwar kein Punschtopf, jedoch immerhin ein Nachttopf von keinem Geringeren als Napoleon. Im dritten Buch "Dunkel, fast Nacht", das erstmals fantastisch-wundersame Elemente aufnimmt, etwa aus Lewis Carrolls "Alice im Wunderland", kehrt nicht Dominika, sondern die Journalistin Alicija nach Wałbrzych zurück. Deren Familienname Tabor ist ein unübersehbares Anagramm von Bator. Die Autorin schreibt die polnische Provinz in die Weltliteratur hinein und sich einen Bildungsroman auf den Leib.
"Ich begann einen Prozess der Wiedergewinnung meiner verlorenen Gebiete, in die ich nie zurückkehren wollte und will. (…) Ich kehre (..) zurück, um zu verstehen." (Lost Worlds, S. 125f.)
Diese Aneignung der Geschichte und Identität – einer weiblichen, einer polnischen, einer provinziellen, einer ästhetisch-literarischen – geschieht aus der Ferne und im Kopf: "Sandberg" fällt Joanna Bator in Tokio zu, wo sie nach Stationen in Großbritannien und Nordamerika als Kulturanthropologin forscht und unterrichtet – in größtmöglicher Entfernung also von Wałbrzych und erstaunlicherweise ohne Recherchen vor Ort. Joanna Bator erfindet ihr Wałbrzych aus der Erinnerung. Auch "Dunkel, fast Nacht", der dritte, düstere Roman, entsteht in Japan – übrigens vor 2012, lange vor dem Wahlerfolg der Pis, deren nationalistisches, chauvinistisches, fremdenfeindliches Polen das Buch in aller Deutlichkeit zu zeigen scheint.
Dominikas Reisen durch die Welt in "Wolkenfern" wiederum entstehen größtenteils in Polen. Zur Nähe bedarf es bei Joanna Bator der Distanz.
"Lasst mich nicht allein! Lasst mich nicht allein!"
Joanna Bator ist allein in den dunklen Hausflur des gewaltigen Plattenbaus geeilt. Nach Jahren bei den unglücklichen, den Kresy nachtrauernden Großeltern zog sie nach Piaskowa Góra. Die Eltern hatten endlich eine größere Wohnung in einem der neuen Plattenbauten gefunden.
Nach dem auf einem Sandberg erbauten neuen Stadtteil ist Bators erster Roman benannt: Sandberg heißt Piaskowa Góra auf Polnisch.
"Man begann, Piaskowa Góra in den späten 1960er Jahren zu bauen, dieses Gebäude entstand in den 70ern. Ich kam als Sechsjährige hierher, also 1975."
"Das Haus von Stefan und Jadzia hat neun Eingänge und elf Stockwerke und eine große gemeinsame Terrasse. Mit schwankenden Schnäbeln bewegen die Kräne Betonplatten von einer Stelle zur andren, der Sand wird unter den Rädern der Lastwagen zu Schlamm und spritzt, als spuckte einer durch zusammengebissene Zähne. Das Ehepaar Chmura hat eine Zweizimmerwohnung auf dem neunten Stock zugeteilt bekommen: ein Esszimmer, wo die Klappchouch aufgestellt wird, auf der nachts die Eltern schlafen, ein Kinderzimmer, Küche und Bad mit Toilette. Und überall Heizkörper. Ein sagenhaftes Glück.
Das ist alles Stefans Pfiffigkeit zu verdanken. Jetzt war Schluss mit dem Aufeinanderhocken in einer ehemals deutschen Bruchbude, Schluss mit den Nazischränken und Gestapo-Klobrillen, mit den Öfen, derentwegen kürzlich jemand im Haus nebenan (…) an Rauchvergiftung gestorben war." (Sandberg, S. 32)
"Der Aufzug ist noch immer derselbe! Es ist der alte Aufzug! Ist das denn möglich? Achtung, es ist ein sehr alter Aufzug! Man muss die Tür festhalten. Es ist wie ein Museum! Hören Sie den Aufzug?"

"Die Aussicht war nicht das Schlimmste"

"Sandberg" erzählt auf kurios überdrehte Weise von der wilden Welt im 100 Meter langen Plattenbau, von der so anders, dunkelhäutig und kraushaarig aussehenden Dominika, ihrer korpulenten Mutter Jadzia mit dem Putzfimmel und dem schmächtigen Vater Stefan, einem zwischen Sofakuhle und Kohlegrube wechselnden Steiger.
"Das Haus auf Piaskowa Góra, in das Herr und Frau Chmura gezogen sind, wird der Babel genannt. Es wird dekliniert wie jedes andere Wort dieser Art auch, des Babels, dem Babel, den Babel, und keiner weiß, wer sich diesen Babel ausgdacht hat. Im Modell von Piakowa Góra sah das größte Gebäude der Siedlung überhaupt nicht schlecht aus, vor allem aber, Genossen: modern. Auf der Dachterrasse blühten Plastikblumen, und rings herum wucherte üppig das Gras aus Resten grüner Auslegeware. Der ehrgeizige junge Architekt redete von Begegnungsstätten für die Bewohner, von Müttern, die mit ihren Kindern auf der Terrasse spazieren gingen, die alle gemeinsam und in rotierender Verantwortung pflegen würden. Dort würden die Arbeitergenossen nach der Arbeit zwischen den Blumenkästen sitzen und mit den Nachbarn plaudern. Lauter anständige Leute, Kumpel, die Frauen der Kumpel, die Kinder der Kumpel und ihre Kumpelfrauen, Arm in Arm mit Intellektuellen der ersten Generation." (Sandberg, S. 157)
"Ich lebte hier 12 Jahre, dort, an der Ecke, im 7. Stock. Die Aussicht war nicht das Schlimmste. Die Aussicht war okay."
Die Aussicht aus der siebenten Etage ist wunderbar. Eine sanft geschwungene bewaldete Landschaft breitet sich nach allen Seiten aus. Wałbrzych ist nur erahnbar hinter Hügeln und in Tälern. Von oben verlieren die gewaltigen Plattenbauten ringsum ihre einschüchternden Dimensionen. Ihnen und damit der Erwachsenenwelt entkommt Joanna Bators Heldin Dominika mit der Freundin auf die Dachterrasse.
Vom zehnten Stock führt eine Treppe nach oben. Doch mittlerweile ist die Tür zum Dach abgeschlossen. Nach einigem Hin und Her, an dem die menschlichen und ein tierischer Bewohner der 10. Etage regen Anteil nehmen …
"Sie haben die Schlösser ausgewechselt, als die Selbstmörder immer öfter sprangen."
… tut sich die Tür doch auf. Joanna Bator ist enttäuscht.
"Damals konnte man nach draußen aufs Dach gehen, vom Flur aus. Das Dach war der magischste Platz in dieser Stadt für mich. Da vorne gab es natürlich ein Geländer. Und nun gibt es keine Terrasse mehr, kein Geländer. Mein Gott, da ist keine Terrasse mehr!"
Und das Dach ist nicht mehr zugänglich.
"Es gab einen langen Korridor, der alle Eingänge miteinander verband, das ganze Gebäude entlang. Von diesem Korridor aus konnte man aufs Dach gehen. Und am Anfang, das war die wunderbare Idee des Architekten, sollten sich die Leute hier treffen, auch einen kleinen Garten haben, mit den Nachbarn feiern. Das klappte nicht. Die Bewohner wollten keinen gemeinsamen Raum, niemand scherte sich um andere. Also wurde das Dach der Platz für Trinker, Prostitutierte und Drogensüchtige, und für uns, die wir uns verstecken wollten. Es gab keine Tür, das Dach war offen zugänglich. Es gab Selbstmorde. Es war ein gefährlicher Platz."
"Bevor noch die Lüftchen der Perestroika wehten, hielt der freie Markt im Babel seinen Einzug, und die Devisenschieber auf der Terrasse verkauften Dollars. Picklige Beuteltiere mit Devisentäschchen, die so fest an den Bauch geschnallt waren, dass die Hautfalten darüberlappten, zählten hingebungsvoll dem einen fünf auf die Hand, dem anderen zehn. Dealer handelten mit "Kompott" und gefälschten Rezepten für Relanium und Reladorm; männliche und weibliche Nutten brachten in Umlauf, was sie zu bieten hatten. Auf der Terrasse des Babel herrschten nicht nur freie Liebe und freier Markt, sondern auch Redefreiheit. Die freie Liebe hatte keinen festen Preis. Der Tand der Aktien wurde an die Wand geschrieben, wo man auch seiner Unzufriedenheit Ausdruck verleihen konnte. "Fick den Dealer Maniek" oder "Miliz = Arschlöcher". Im Winter spielte sich das Leben hauptsächlich im Flur ab, aber im Sommer zog es sie hinaus an die Sonne: die Drogensüchtigen mit den Gesichtern in Plastikbeuteln voll Kleber, obdachlose Paare, die eine Spur benutzter Präservative hinter sich ließen, angeberisch laute Jungs, die schon die Macht des Alkohols kennengelernt hatten, der die Zunge löste, die Arme und manchmal auch die Schenkel der Mädchen öffnete, die anfangs noch schüchtern waren, sich aneinander festhielten, husteten, Hilfe! Riegen, ich kann nicht mehr, das brennt so!" (Sandberg, S. 264)

"Es ist ein unheimlicher Ort!"

Es gibt neben der Dachterrasse auf Babel noch einen Ort in Wałbrzych, an den sich die heranwachsende Joanna Bator gern zurückzog. Auch er hat Eingang gefunden in ihre Wałbrzych-Trilogie, in den letzten Band "Dunkel, fast Nacht", in dem die Journalistin Alicija Tabor nach verschwundenen Kindern recherchiert. Deren Schicksal korrespondiert mit historischen Verbrechen an anderen Kindern, mit Morden von Nationalsozialisten, mit Vergewaltigungen durch Rotarmisten – und mit verdrängten Erinnerungen Alicijas.
"Vater hatte Ewa und mich mitgenommen zu einem Picknick, es müssen die letzten Sommerferien vor dem Tod meiner Schwester gewesen sein. Zuerst besichtigten wir die Ruine von Hitlers Mausoleum, die in der Nähe versteckt lag, auf einer hübschen Anhöhe mit Blick auf Nowe Miasto. Vater kannte jedes Detail der Stadtgeschichte. Der Bau des Mausoleums wurde nach Hitlers Besuch in Wałbrzych 1932 beschlossen, 1938 war die feierliche Eröffnung. Sogar eine Gasleitung wurde gelegt, dank der dort ein »Walhalla-Feuer« brannte, bis die Deutschen nach dem Krieg aus Wałbrzych flüchteten. Danach verfiel das Bauwerk langsam, aber unaufhaltsam und wucherte zu wie Angkor Wat." (Dunkel, fast Nacht)
"Es ist ein unheimlicher Ort!"
Der massive, gedrungene, nur einen Stockwerk hohe Bau aus hellen Sandsteinklinkern mit leeren Fensteröffnungen liegt idyllisch mitten im Wald und strahlt in seiner Verlassenheit eine beängstigende, pathetisch-weihevolle Stimmung aus.
"Seht nur, wie gut erhalten alles ist!"
"Ich schwänzte hier die Schule., lesen, trinkend, rauchend natürlich."
"Damals sah es genauso aus: Der Feuerplatz war genau dort, und wir machten Feuer. Es sah damals genauso aus, nichts hat sich verändert. Und die Mauern sind noch immer ziemlich solide."
Das massive Gemäuer umgibt einen Hof mit wucherndem Gras. An der Decke Reste von Mosaiken, in einer Ecke der Eingang zu einem Tunnel, in dem man einst ein totes, vergewaltigtes Mädchen fand, in einer anderen das Wappen Waldenburgs, in der Fensternische daneben ein jüngeres Zeugnis, eine mit Schablone aufgesprühte Botschaft, Runen von Neonazis: "Wir kommen wieder".
"Dealer und Drogenabhängige kommen hierher, keine Trinker. Für die ist es viel zu weit weg, nur um betrunken zu werden."
Nichts ist Joanna Bator zu entlegen, um es nicht in einer gewagten Wendung mit Dominika und Alicija in Wałbrzych zu verbinden. Mit Napoleons Nachttopf, der in "Wolkenfern" von Hand zu Hand und durch die Jahrhunderte geht, erzählt die Autorin vom Judenmord der Nazis in Polen, von der Hartherzigkeit mancher polnischen Nachbarn, aber auch von geglückten Fluchten in die USA. Burleske Höhepunkte erhält das auf alle Wahrscheinlichkeit pfeifende Geschichtengewebe durch eine schwarze Tänzerin, die einst Napoleon vernaschte, weshalb mit ihrer Urururenkelin Sara, einer Freundin Dominikas, der Kampf gegen Rassismus nach Wałbrzych hineinspielt.

Monstrositäten im vierten Roman

In dem Roman "Dunkel, fast Nacht" lockert Joanna Bator die unheimliche Atmosphäre von Hitlers Mausoleum auf, indem Ewa ihrer Schwester Alicija von Fürstin Daisy, der auf Schloss Fürstenstein residierenden Gegenspielerin von Hitler, erzählt und beiläufig den Lieblingskuchen der beiden erwähnt.
Die Basiatörtchen wurden in einem Café nahe dem Markt von Wałbrzych verkauft, der nächsten Station dieser Reise zu Vorbildern fiktiver Orte.
"Das war das bekannte Cafè Madras. Alicija geht mit ihrer Schwester hierher, denn hier konnte man den besten Kuchen der Welt essen, Basia heißt er. Diese Basiatörtchen stecken bis heute in meinem Kopf. Ich habe eben in den Laden gesehen und den Geschmack auf der Zunge gefühlt."
Die Paradiesspeise ist allerdings auch ein Mordinstrument: Alicijas Schwester Ewa wird sie mit Schlafmitteln tränken und der Mutter zu essen geben, nachdem diese in geistiger Verwirrung versucht hat, ihre Töchter umzubringen. Danach legt Ewa Hand an sich, und Alicija verliert mit einem Schlag Mutter und Schwester. Dass ihre Mutter die Basiatörtchen überlebte, erfährt sie erst am Ende ihrer Recherche in Wałbrzych, am Ende des Romans, und auch diese Nachricht löst keineswegs Glücksgefühle aus. Die Wiederbegegnung mit der Mutter ist vielmehr schaurig. Bei aller Lust am vergnüglichen Fabulieren: Bator täuscht keine Versöhnung vor. Unterhaltende Elemente stehen im Dienst irritierender Ambivalenz.
"Jetzt werden wir meine allererste Bibliothek sehen. Es war reine Magie für mich. Meine Großeltern hatte keine Bücher, nicht ein einziges."
In "Dunkel, fast Nacht" entbietet Joanna Bator dem magischen Ort ihrer Kindheit einen Gruß, indem sie eine Bibliothekarin, eine frühere Mitschülerin, die immer ein Junge sein wollte, als "verrückte Transbibliothekarin" auftreten lässt. Heterotopien solcher Art, nicht nur sexuelle, dienen der Autorin zur Kennzeichnung von Orten und Personen des Andersseins und Widerstands.
Der Marktplatz vor der Bibliothek ist in "Dunkel, fast Nacht" der Ort der entfesselten Volksgemeinschaft. Die Einwohner scharen sich zunehmend aggressiv um einen älteren Herren, dem beim illegalen Kohlesammeln in einem stillgelegten Stollen ein Wunder widerfuhr.
"Die Muttergottes war Jan Kołek erschienen, einem kinderlosen Witwer Mitte fünfzig, der vorher nie durch ausgeprägte Gottesfurcht oder dergleichen aufgefallen war. (…) "Dieweil mir einfachem Bürger jämmerlichem Wurm die himmlische Ehre zuteil wurde dass unsere allerheiligste Schmerzensmutter zu Gesandten ihrer Worte auserkor mich jämmerlichen Wurm", so lautete der Anfang von Jan Kołeks Prophezeiung auf dem Wałbrzycher Marktplatz. Auf mich wirkte Kołeks hageres, dunkles Gesicht ähnlich anziehend wie ein Buch mit verheißungsvollem Titel, und ich war bereit, ihm seine Begegnung mit Maria zu glauben, die ihm angeblich erschien, als er drei Tage lang im Schacht verschüttet war. So etwas musste einfach Spuren hinterlassen. Jan Kołek hätte ja sicher auch weniger freundliche Gesellen in seinem Kohleschacht treffen können, zum Beispiel rachedurstige jüdische Ermordete aus dem Konzentrationslager Groß-Rosen, die irgendwo im Wald bei Schloss Fürstenstein verscharrt liegen." (Dunkel, fast Nacht, S. 44 f.)
Nach Tagen und Wochen stillen Stehens auf dem Marktplatz stirbt Jan Kołek einen Märtyrertod: Er fällt im Gedränge unglücklich auf einen Stein, und diesmal ist keine Maria gnadenreich zur Stelle. Kołek folgt ein Verführer und Hetzer namens Jerry Swan nach.
"Jerry Swans rednerische Darbietung kam jetzt richtig in Schwung: 'Im Antlitz der heiligen Schmerzensmutter hellen Antlitz fließt in diese Erde des gemarterten Jan Kołek Blut.' 'Blut Marter!', raunte die Menge, 'Martermeinermarterblut!' 'Menschen dieser Erde!', rief Swan, und seine Stimme schraubte sich in höchste Höhen, als stünde er nicht auf dem Wałbrzycher Markt, sondern auf dem Gipfel des Mont Blanc. 'Wachet auf! Gemarterte und Gekreuzigte, die ihr in Jan Kołeks Blut gebadet seid! Eure Kinder wurden euch genommen, Gewürm und Gas auf euch gehetzt!' 'Blut Marter Gewürm!', stöhnte die Menge. 'Martermeinermarterblut!'"(Dunkel, fast Nacht, S. 204f.)
Den entfesselten Mob in Lynchstimmung auf dem Marktplatz und im städtischen Webforum hat Joanna Bator – wie den ganzen Roman – in Japan imaginiert. Mit "Dunkel, fast Nacht", mit "Sandberg" und "Wolkenfern" erschreibt sie sich eine unsentimentale, problematische und ambivalente Heimat, eine, die problematisch und ambivalent sein darf. Heute sind Hasstiraden voller Mordlust, wie sie sie erfand, vielfach im Internet zu lesen, ermutigt nicht zuletzt durch die Politik der Regierungspartei Pis.
Joanna Bator ist nach Jahren im Ausland in die Nähe Warschaus gezogen und baut ein Haus am Waldrand. Ein neuer, vierter Roman ist fertig. Er spielt nicht mehr in Wałbrzych, sondern im 55 Kilometer entfernten Ząbkowice Śląskie, zu Deutsch: Frankenstein. Der Ortsname weist schon darauf hin: Um Monstrositäten geht es auch in ihm, und es sind beileibe nicht nur romantische.
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