Politologe Olaf Kleist

Plädoyer für systematische Flüchtlingsforschung

Zeichnungen junger Flüchtlinge im Rahmen des Projekts "Klangbild - Leben in der Fremde"
Zeichnungen junger Flüchtlinge: Der Politikwissenschaftler Olaf Kleist hat Argumente für ein Zentrum für Flüchtlinsgsforschung. © Deutschlandradio / Johannes Kulms
Olaf Kleist im Gespräch mit Ute Welty · 08.10.2016
Flucht, Asyl und die damit verbundenen politischen, sozialen und juristischen Herausforderungen: Ihre Erforschung steht in Deutschland noch am Anfang. Der Politologe Olaf Kleist fordert deshalb, die wissenschaftliche Arbeit zum Thema zu intensivieren und zu bündeln.
Wissenschaftler wollen die Forschung zu Flucht und Flüchtlingen intensivieren. Bei einer bundesweit ersten Konferenz zur Flüchtlingsforschung tauschen sich rund 300 Migrations- und Konfliktforscher, Politologen, Historiker, Pädagogen und Soziologen über die neuesten wissenschaftlichen Ergebnisse aus. Organisiert wurde das dreitägige Treffen von dem vor drei Jahren gegründeten Netzwerk Flüchtlingsforschung. Gastgeber ist das Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück.
Der Politikwissenschaftler Olaf Kleist hält eine gebündelte und besser institutionell verankerte Forschung zu Flucht und Flüchtlingen in Deutschland für dringend notwendig.
"Bei vielen Fragen von Aufnahme, Integration und ähnlichen Fragen, da kann die Flüchtlingsforschung ganz viel leisten, was sie jetzt versucht ad hoc nachzuholen. Und da wäre es wichtig gewesen eine dauerhafte Struktur zu haben wie Professuren oder ein Forschungszentrum", sagte Kleist im Deutschlandradio Kultur zu den Schlussforderungen der bundesweit ersten Konferenz zur Flüchtlingsforschung.

Flüchtlingsforschung mit Blick auf deutschen Spezifika

Die späte systematische Erforschung von Asyl, Flucht und Zwangsmigration in Deutschland sieht der Politologe im Rückgang der Asylbewerberzahlen Mitte der 1990er-Jahre begründet. Die Migrationsforschung habe sich damals mehr den Themen Staatsbürgerschaft und Zuwanderungsgesetzgebung zugewandt. Im englischsprachigen Raum, etwa in Großbritannien, den USA, Australien oder Kanada, wird Asyl und Flucht im Forschungszweig Refugee Studies seit 30 Jahren systematisch erforscht. Angesichts wachsender Flüchtlingsbewegungen sei auch in Deutschland Flüchtlingsforschung unter Berücksichtigung der deutschen Spezifika wichtig: "Jetzt bemerken wir, hier fehlt uns was", sagte der Politologe am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück, der dort auch das wissenschaftliche Netzwerk "Grundlagen der Flüchtlingsforschung" koordiniert.

Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Ganz Frankreich unterwegs. So ungefähr muss man sich das vorstellen, wenn 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sind, auf der Suche nach Asyl im Ausland oder nach Sicherheit in der Heimat. Wissenschaftler wollen jetzt die Forschung zu Flucht und Flüchtlingen in Deutschland voranbringen, denn bislang gibt es weder ein Institut noch eine Professur in Deutschland, die sich der Sache annehmen. Aus diesem Grund haben sich 300 Wissenschaftler in Osnabrück getroffen. Die Konferenz zur Flüchtlingsforschung geht heute zu Ende, organisiert unter anderem vom Politikwissenschaftler Olaf Kleist, der an der Uni Osnabrück am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien forscht. Guten Morgen, Herr Kleist!
Olaf Kleist: Guten Morgen!
Welty: Was ist Flüchtlingsforschung? Das ist die Frage, die Sie heute zum Abschluss der Konferenz auf einer Podiumsdiskussion stellen. Können Sie schon eine Antwort skizzieren?
Kleist: Ja, das ist eigentlich eine komplexe Antwort, die wir da immer wieder auch schon diskutieren, das ist eine Leitfrage, die es auch in der englischsprachigen Flüchtlingsforschung schon seit 30 Jahren gibt, aber für uns ist es vor allem die Frage, was kann Flüchtlingsforschung auch in Deutschland sein. Es hat ja immer schon wieder auch vereinzelte Forschungen gegeben, aber zu Fragen, wie können wir eigentlich diese Forschung verknüpfen, auch die Komplexität des Themas ergreifen, das müssen wir erst noch lernen und auch miteinander herausfinden.
Welty: Vielleicht haben sich aber schon erste Ansätze, erste Fragestellungen in den ersten zwei Tagen Ihrer Konferenz ergeben, wie könnte eine Richtung aussehen?
Kleist: Es gibt viele Richtungen, sowohl thematisch, disziplinär als auch in einem geografischen Fokus, und die Aufgabe ist, all das zusammenzubringen – von ethnologischen Studien darüber, warum Menschen eigentlich fliehen und wie sie migrieren, über politische Fragen, wie politische Schutzregime für Flüchtlinge funktionieren, hin zu soziologischen Fragen, wie die Aufnahme vielleicht geschehen kann. Also all das sind Fragen, die aber auch miteinander zusammenhängen und die man zusammen diskutieren muss.
Welty: Na ja, Sie sind ja selber Politikwissenschaftler, Sie haben sich jetzt mit Historikern, Soziologen und Pädagogen getroffen. Welcher Ansatz aus welcher Disziplin hat Sie dabei besonders überrascht, wo haben Sie dann gesagt, ach, das hätte ich mir jetzt so als Politikwissenschaftler gar nicht so vorgestellt?
Kleist: Wir haben einige Diskussionen, zum Beispiel um den Begriff, wer ist eigentlich ein Flüchtling, das liegt gar nicht so auf der Hand. Da haben natürlich Rechtswissenschaftler einen ganz anderen Ansatz als Soziologen oder Politikwissenschaftler. Also diese disziplinären, auch unterschiedlichen Ansätze finde ich immer spannend. Wir haben auch darüber hinaus Psychologen dabei, wir haben Leute aus den Urban Studies und der Architektur, was ich unheimlich spannend finde, und auch aus den Literaturwissenschaften. Und dass man da auch voneinander lernen kann, zum Beispiel aus ganz anderen Arten von Narrativen, das sind wirklich auch spannende und lehrreiche Diskussionen, die wir da führen.
Welty: Was unterscheidet Grundlagenforschung bei diesem Thema von statistischen Erkenntnissen über die aktuelle Situation, sage ich jetzt mal so.

"Was wir brauchen, ist eine langfristige Forschung"

Kleist: Was wir jetzt in den letzten zwei Jahren etwa gesehen haben, ist ein wirklicher Boom an Forschung zu Flüchtlingen und Flucht. Das sind vielfach so kleine, oft auch anwendungsbezogene Studien, die natürlich auf die momentanen Herausforderungen auch eingehen – die Herausforderungen, die jetzt auch gerade ganz akut und ganz deutlich werden, auf die auch die Wissenschaft versuchen will, Antworten zu finden, dazu beitragen will, hier vielleicht gute Lösungsansätze zu finden. Was wir aber brauchen, ist eine langfristige Forschung, die uns Instrumente an die Hand gibt und methodisches und theoretisches Verständnis, auf Grundlage dessen wir dann auch wiederum durchaus anwendungsbezogene Forschung machen können. Also es geht um eben so diese grundlegenden Fragen wie, wer ist eigentlich ein Flüchtling, wie sind eigentlich bestimmte Fragen wie zum Beispiel Integration zu verstehen. Das sind Dinge, die sich nicht in ein, zwei Jahren klären lassen, sondern dafür braucht man Forschung über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte.
Welty: Haben Sie für sich schon eine Fragestellung, ein Forschungsfeld ausgemacht, wo Sie sagen, da möchte ich die nächsten, weiß ich nicht, fünf Jahre gerne dran arbeiten?
Kleist: Meine eigene grundlegende Frage ist die: Warum bieten Gesellschaften Flüchtlingen überhaupt Schutz und Zuflucht an? Ich finde das eine spannende Frage, wie eigentlich so was wie Zugehörigkeit hergestellt wird. Mein eigener Fokus ist ja vor allem auf Deutschland und Europa, also die Frage, wie zum Beispiel auch innerhalb Europas verschiedene Vorstellungen davon existieren, warum und wie Flüchtlinge aufgenommen werden sollen. Ich glaube, gerade solche vergleichenden Studien, davon sehen wir gerade noch sehr wenig. Also mehr vergleichende Studien wird sicherlich ein Trend auch in den nächsten paar Jahren sein, was sehr lehrreich sein kann auch für die einzelnen Länder, die man dabei dann untersucht.
Welty: Wie unterscheiden sich die Vorstellungen von Asyl und Schutz in den einzelnen Ländern bislang?
Kleist: Ja, wir sehen natürlich die vielen auch politischen Konflikte, die wir in den einzelnen Ländern gerade sehen, nicht nur in Deutschland, in Frankreich, in Polen und Ungarn. Die resultieren daraus, dass wir auch innerhalb der Gesellschaften unterschiedliche Vorstellungen davon haben, sei es zum Beispiel die Frage, dass Religion oder Nationalität hier eine große Rolle spielen, oder sind es eher liberale Ideen wie Bürgerrechte und Menschenrechte. Dadurch entstehen ganz unterschiedliche Vorstellungen, wie wir uns persönlich auch zu Flüchtlingen verhalten und wie diese Vorstellungen von nationaler Zugehörigkeit, die Flüchtlinge verloren haben … Für einen Flüchtling macht das ja aus, dass er sein Verhältnis zum Staat, seine Staatsbürgerschaft verloren hat, vom Staat verfolgt wird, und wie können wir diese an Flüchtlinge auch wiedergeben. Das hat was damit zu tun, wie wir uns vorstellen, wie wir uns auch zueinander verhalten.
Welty: Warum steckt die Flüchtlingsforschung in Deutschland eigentlich derart in den Kinderschuhen, während sich Briten, Amerikaner und Australier schon seit drei, mehreren Jahrzehnten damit beschäftigen?

"Eine eigene Forschung in Deutschland entwickeln"

Kleist: Zur gleichen Zeit, als das in der englischsprachigen Wissenschaft anfing, fing hier die Migrationswissenschaft an, und die Migrationswissenschaft hat aber noch in den 80er-, 90er-Jahren die Fragen von Flüchtlingen und Asyl immer wieder mit aufgegriffen. Aber Mitte der 90er-Jahre, mit der Asylrechtsreform, wandte sich die Migrationsforschung, die immer noch auch vereinzelt was gemacht hat zur Flucht, aber verstärkt auch Fragen wie der Staatsbürgerschaftsänderung oder dem Zuwanderungsgesetz zu, also durchaus auch geleitet von anwendungsorientierter Forschung. Und dabei ist das Thema Flucht und Flüchtlinge ein bisschen vergessen worden. Die Asylbewerberzahlen gingen immer weiter runter, und jetzt in den letzten Jahren, wo die Zahlen wieder hochgegangen sind, da merken wir, hier fehlt uns was, wir müssen ganz viel wieder nachholen, aber auch ganz besonders die deutsche Spezifik dabei berücksichtigen. Wir können also nicht einfach kopieren, was es im englischsprachigen Forschungsbereich da gibt, sondern wir müssen davon ganz viel aufgreifen und dann auch eine eigene Forschung hier in Deutschland entwickeln.
Welty: Wäre die Diskussion in Deutschland seit dem vergangenen Herbst anders verlaufen, wenn die Forschung weiter wäre?
Kleist: Ich denke, die Forschung hätte schon seit Jahren viel dazu beitragen können – zum einen zu verstehen, warum es und wie es zu Flucht kommt. Es hat natürlich immer wieder auch Warnungen gegeben, zu sagen, Moment mal, wir haben eine Krise nicht nur in Syrien, sondern weltweit seit vielen Jahren, eine riesige humanitäre Krise im globalen Maßstab, davor zu warnen und zu sagen, davon können wir uns nicht isolieren. Ich glaube, mit einer stärkeren Stimme der Forschung wäre es möglich gewesen, aber die Forschung warnt auch schon seit Jahren vor einem europäischen Asylsystem, was vorm Kollaps stand, was einfach nicht funktionieren konnte. Und natürlich bei vielen Fragen auf Aufnahme, Integration und ähnlichen Fragen, da kann die Flüchtlingsforschung ganz viel leisten, was sie jetzt versucht, ad hoc nachzuholen. Und da wäre es wichtig gewesen, eine dauerhafte Struktur zu haben, wie zum Beispiel Professuren oder ein Forschungszentrum, was dauerhaft dran arbeiten kann und dann auch in Krisen, die wiederkommen werden, die Instrumentarien zu haben, um hier mehr Informationen bereitzustellen.
Welty: Politikwissenschaftler Olaf Kleist gehört zu den Organisatoren der ersten Konferenz der Flüchtlingsforschung, die heute in Osnabrück zu Ende geht. Haben Sie Dank fürs Interview, Herr Kleist!
Kleist: Ja, vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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