Politologe: Labour hat sich "verbraucht"

Gerhard Dannemann im Gespräch mit Marietta Schwarz · 06.05.2010
Der Politikwissenschaftler Gerhard Dannemann hält einen Machtwechsel in Großbritannien für realistisch. Sollte es nach den Unterhauswahlen eine Regierungsbeteiligung der Liberalen geben, könnte es sogar "eine ganz andere politische Landschaft geben", sagte Dannemann.
Marietta Schwarz: Viele unentschlossene Wähler - Sie haben es eben gehört -, alles ist offen bei den Parlamentswahlen in Großbritannien. Mit der Labour-Regierung, die seit 13 Jahren an der Macht ist - so viel ist klar -, sind viele Briten sehr unzufrieden, und es könnte gut sein, dass die konservativen Tories die stärkste Kraft werden.

Was ist da in den letzten Jahren passiert? Und: Wie sind die Perspektiven für die Insel? Darüber spreche ich mit dem Politikwissenschaftler Gerhard Dannemann. Er ist Direktor am "Centre for British Studies" in Berlin. Guten Morgen!

Gerhard Dannemann: Guten Morgen!

Schwarz: Herr Dannemann, das Ende von Labour müssen wir ja noch nicht ausrufen, aber Tatsache ist ja, dass die Partei sich in keinem guten Zustand befindet. Sind es die Personen oder die Inhalte, die für das Umfragetief verantwortlich sind?

Dannemann: Beides sicherlich. Gordon Brown gehört nicht zu den beliebtesten britischen Politikern, das ist ein Faktor, aber Labour hat sich auch in 13 Jahren an der Macht etwas verbraucht. Das muss man einfach so sehen. Die Stammwähler von Labour sind nicht glücklich darüber, dass Labour so weit in die Mitte gerutscht ist, aber anderen Leuten geht das, was Labour gemacht hat, auch nicht weit genug.

Schwarz: Mit Labour, mit New Labour hat man ja mal Aufbruchstimmung verbunden. Wann ist diese Stimmung gekippt?

Dannemann: Wahrscheinlich mit dem Irak-Krieg mehr oder weniger. Das war das Kontroverseste, was Tony Blair in seiner Amtszeit gemacht hat. Die Reformen, die er vorher durchgeführt hat - und das waren zahlreiche -, Verfassungswesen, Gesundheit, Bildung, die kamen ziemlich gut an; der Irak-Krieg hat dann aber seine Wähler auch stark polarisiert wie das ganze Land.

Schwarz: Jetzt ist die Partei ja auch in vielen Bezirken mit Labour-Stammwählerschaft eingebrochen. Ist es vielleicht auch so, dass die Sozialdemokratie keine Antworten mehr auf die komplexen Fragen der Zeit liefert?

Dannemann: Sie können sich die Wahlprogramme durchgucken und vergleichen und alle haben was anzubieten für die komplexen Fragen der Zeit. Sie weichen natürlich voneinander ab, sie haben unterschiedliche Zukunftsvisionen.

Ich denke, das ist einfach ein normaler Prozess, den man da sieht. Vorher waren eben halt die Tories relativ lange an der Macht, die Konservativen, die hatten sich zum Schluss auch komplett verbraucht, und eine solche Phase haben wir jetzt eben halt bei Labour gesehen. Viele Briten meinen, jetzt sei Zeit für einen Amtswechsel.

Schwarz: Sehen Sie da auch Parallelen zu Deutschland?

Dannemann: Ja, das kann man durchaus. Wir hatten allerdings bei uns durch unsere Koalitionsregierung eigentlich immer eine Stabübergabe. Seitdem Gerhard Schröder die Wahl 1998 gewonnen hat, blieb die SPD im Amt, zusammen mit der CDU, und dann blieb die CDU im Amt zusammen mit der FDP. Wir haben also dadurch in Deutschland mehr Kontinuität als in Großbritannien.

In Großbritannien geht es meistens, dieses Mal aber wahrscheinlich eher nicht, direkt über zu dem jeweiligen politischen Gegner. Dieses Mal ist es komplexer, weil die größte Wahrscheinlichkeit noch dafür spricht, dass es im nächsten Parlament keine Mehrheit geben wird. Das ist allerdings noch nicht klar, das entscheiden die Wähler.

Schwarz: Darauf kommen wir gleich noch mal zu sprechen. Zunächst aber noch mal der Blick auf die Tories. Wo sind die denn heute nach 13 Jahren Opposition angekommen?

Dannemann: Die haben in den ersten Jahren in der Opposition überhaupt keinen Fuß fassen können. Es ist jetzt schon der vierte Führer der Tories, der antritt gegen Labour. Drei haben sich zerschlissen und der jetzige, David Cameron, hat es einigermaßen ganz gut geschafft, die Tories zu modernisieren, den Blick nach vorne zu richten, und hat jetzt ein schwieriges Balancespiel.

Er muss die Stimmen in der Mitte zurückgewinnen, er darf aber gleichzeitig an dem rechten Rand nicht allzu viel verlieren, weil es dort eine sehr lautstarke, wenn auch zahlenmäßig nicht so starke Partei gibt, die den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union fordert, die UK Independence Party. Da muss jetzt die konservative Partei unter David Cameron einen gewissen Balanceakt machen.

Schwarz: Ein Name ist ja in letzter Zeit häufig gefallen, der von Nick Clegg. Wie kommt es denn, dass die Politikverdrossenen jetzt ausgerechnet die Liberaldemokraten entdecken?

Dannemann: Das ist eine der größten Überraschungen dieser Wahl. Die Wähler waren früher, sollte man sagen - es sind eigentlich drei jetzt daran beteiligt -, vor dem Fernsehen, wo die drei Parteiführer diskutiert haben, ihre Positionen dargelegt haben, und die Umfragewerte für die Liberalen und Nick Clegg sind dramatisch in die Höhe geschnellt.

Zwischendrin standen sie sogar besser da in den Umfragen als Labour und kamen an die Konservativen heran. Die Liberalen sind eine der ältesten Parteien Großbritanniens, und die haben auch lange die Regierungsverantwortung im Wechsel mit den Konservativen gehabt und sie sind dann Anfang des 20. Jahrhunderts überholt worden von Labour.

Jetzt diese Situation, wo viele Leute, die früher New Labour gewählt haben, mit New Labour nicht mehr zufrieden sind, aber die Konservativen aus anderen Gründen auch nicht wählen wollen, vielleicht weil sie ihnen zu euroskeptisch sind, vielleicht aus anderen Gründen, die strömen zu den Liberalen, und so sieht es also aus, als ob die ihr bestes Ergebnis seit vielleicht 100 Jahren einfahren könnten bei dieser Wahl.

Schwarz: Jetzt könnte es zu einer Koalition kommen. Sie haben das angedeutet. Sehen Sie darin eine Chance, oder ein Problem?

Dannemann: Man kann beides darin sehen. Es wäre nicht die erste Koalition. Es gab welche im vergangenen Jahrhundert, sie sind eher selten wegen des englischen Mehrheitswahlrechts, das meistens sehr stabile Mehrheiten produziert. Wenn es zu einer Koalitionsregierung kommen wird, ist es sehr unwahrscheinlich, dass die zwischen Labour und den Konservativen ist.

Das Wahrscheinlichste ist, dass die Liberalen dabei die Schlüsselrolle spielen, und die würden wahrscheinlich sehr weit oben auf ihrer Prioritätenliste eine Reform des Wahlrechts haben. Es könnte sein eben, dass der Preis des Regierens wäre, dass das Mehrheitswahlrecht geändert wird, und dann hätten wir in Großbritannien zukünftig eine ganz andere politische Landschaft.

Schwarz: Der Direktor des "Centre for British Studies" in Berlin, Gerhard Dannemann, war das. Herzlichen Dank!

Dannemann: Gerne.