Politologe Eckhard Jesse

Streitbare Demokratie setzt ihren Feinden Grenzen

Der Politologe Eckhard Jesse in seinem Haus in Niederbobritzsch bei Freiberg
Der Politologe Eckhard Jesse in seinem Haus in Niederbobritzsch bei Freiberg © dpa / picture alliance / Wolfgang Thieme
Eckhard Jesse im Gespräch mit Ernst Rommeney · 22.08.2015
Der Chemnitzer Politologe Eckhard Jesse gibt 24 seiner Artikel der letzten fünf Jahre neu heraus, in denen er sich mit Extremismus und Demokratie, Parteien und Wahlen, aber auch mit der Politikwissenschaft beschäftigt. Leisetreterei ist ihm ein Gräuel.
Die demokratische Gesellschaft benötige einen antiextremistischen Konsens, nicht aber einen antifaschistischen oder einen antikommunistischen. Denn nicht jeder Antifaschist und nicht jeder Antikommunist offenbarten sich als Demokrat.
Eigentlich hält es Eckhard Jesse für besser in einem Konzept streitbarer Demokratie "pro" zu argumentieren und nicht mit einem "anti", weil es beliebig zu vergifteten und unklaren Kampfbegriffen kombiniert werde.
Extremismus und Parteienforschung
Dem Begriff des "Extremismus" dagegen misst der emeritierte Politologe an der Technischen Universität Chemnitz wissenschaftlichen Wert für die Parteienforschung bei, räumt jedoch ein, damit in seiner Disziplin eine Minderheitenposition zu vertreten.
Extremismus stelle die Antithese des demokratischen Verfassungsstaates dar und begegne dessen Pluralismus mit Freund-Feind-Denken und Verschwörungstheorien, im Rechtsextremismus, im Linksextremismus wie im Fundamentalismus, wie er sich gegenwärtig am stärksten im Islamismus zeige. Selbst wenn extremistische Parteien ideologische Antipoden besetzen würden, wiesen sie doch strukturelle Gemeinsamkeiten auf.
Durch den Linksextremismus laufe der Antifaschismus als ein einigendes, aber auch antidemokratisches Band. Die eine Ideologie ernähre sich zudem von der anderen. So sei es in der fremdenscheuen, weil fremdenunerfahrenen Gesellschaft der DDR zur "merkwürdigen Paradoxie" gekommen, dass der "Antifaschismus" von oben einen Faschismus von unten begünstigt habe.
Linke und rechte Gemeinsamkeiten
Worauf nach der Wende die PDS als erneuerte SED sich den "Kampf gegen Rechtsextremismus" vorgenommen habe, um die eigene Existenzberechtigung unter Beweis zu stellen. Für die Nachfolgerin Die Linke sei daraus der "Kampf gegen rechts" geworden, dessen Unschärfe erlaube, auch konservative Positionen darunter fassen zu können und sich selbst nicht linkem Extremismus stellen zu müssen.
Ebenso vermeide es die NPD, sich offen zu nationalsozialistischer Tradition zu bekennen, aber auch sich klar von ihr zu distanzieren.
Seine Kriterien des Extremismus hielten sich auf Äquidistanz, würden rechtes und linkes Denken nicht gleichsetzen, sondern differenziert – bezogen auf Ideologie, Strategie und Organisation - bewerten, auch nicht die "herrschende Politik" rechtfertigen oder die gesellschaftliche Mitte idealisieren.
Das richtig gewählte, für ihn liberale Motto wäre demnach: "keine Freiheit zur Abschaffung der Freiheit" anstelle von "keine Freiheit den Feinden der Freiheit".
So gesteht der Demokratieforscher der Partei Die Linke eine weiche Spielart des Extremismus zu, die dem demokratischen Verfassungsstaat näher stehe als die NPD. Der Grad der Loyalität sage wiederum nichts aus über den Grad der Gefahr, die von einer politischen Richtung ausgehe.
NPD und Parteiverbot
Während Die Linke politischen und gesellschaftlichen Einfluss habe und Regierungsbündnisse anstrebe, sei die NPD gesellschaftlich geächtet und beeinflusse die politische Willensbildung nicht nennenswert.
Deswegen lehnt Eckhard Jesse auch ein Parteiverbot ab, obschon sie die Voraussetzungen dafür erfülle. Es greife aber allzu gravierend in den Pluralismus ein und verhindere, dass Wahlergebnisse zum nützlichen Seismograph der Stimmungslage unter den Wahlbürgern würden.
Stattdessen empfiehlt er der streitbaren Demokratie, mit Überzeugungsarbeit, Engagement und Vertrauen auf die eigene Überlegenheit antidemokratischen Richtungen Grenzen deutlich aufzeigen und sie zu zwingen, sich dem demokratischen Konsens anzupassen, ohne allerdings wiederum angepasstem Reden und Handeln auf dem Leim zu gehen.
Politologie und gesellschaftliche Mitte
In seinem Buch gibt der Chemnitzer Politologe 24 seiner wissenschaftlichen Artikel der letzten fünf Jahre neu heraus, in denen er sich mit Extremismus und Demokratie, Parteien und Wahlen, aber auch mit der Politikwissenschaft beschäftigt.
Wissenschaftliche Leisetreterei ist ihm ein Gräuel. Er verlangt von seiner Fachdisziplin, dass sie urteile und bewerte, dem Leser Übersicht über relevante Themen verschaffe. Als methodisch fragwürdig kritisiert er Studien, die einen Extremismus der gesellschaftlichen Mitte feststellten, indem sie den "kleinen Mann", der ihrem Fragenkatalog nicht gewachsen sei, in die rechte Ecke stellen würden, somit auch Mitglieder der Volksparteien SPD und CDU/CSU.

Eckhard Jesse: Extremismus und Diktaturen, Parteien und Wahlen. Historisch-politische Streifzüge
Böhlau Verlag, Wien Köln Weimar, August 2015
488 Seiten, 60 Euro

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