Politische Moral

Ist Solidarität aus der Mode gekommen?

Königsallee in Düsseldorf
Soziale Kluft: Armut vor Luxusgeschäft © picture alliance / dpa / Foto: Martin Gerten
Von Sabine Hark · 18.01.2017
Mehr Solidarität wagen! Dafür plädiert die Soziologin Sabine Hark. Sie sagt: Wir brauchen eine Sprache der universellen, politischen Moral - in Zeiten globaler Ungleichheiten mehr denn je.
Der Begriff "Solidarität" mutet heutzutage aus der Mode gekommen an – dabei bräuchten wir in Zeiten extremer globaler Ungleichheiten mehr denn je eine Sprache der universellen, politischen Moral, die sich offen zeigt für diese Welt und unterschiedlichste Lebensrealitäten – eine Sprache, die uns dennoch trotzdem verbindet.
Seit einiger Zeit treibt mich ein Satz der feministischen Künstlerin Hito Steyerl um. Im Blick auf weltweite Ungleichheiten hatte Steyerl vor einigen Jahren angemerkt, Solidarität selbst sei subaltern geworden und könne nicht mehr vernehmbar artikuliert werden.
Steyerls Beobachtung wirkt heute aktueller denn je. Vernachlässigung und Verunsicherung, Ausgrenzung und Entwürdigung, Hass und Verletzung, Gewalt und Terror, Ausbeutung und Herrschaft scheinen die Insignien unserer Zeit und prägen vielleicht mehr denn je das weltgesellschaftliche Miteinander.
Auch die global größer werdende Ungleichheit scheint Steyerl Recht zu geben. Jedenfalls mutet "Solidarität" in der Tat wie ein Begriff aus einer fernen Zeit an – angesichts der Tatsache, dass das reichste Eine Prozent der Weltbevölkerung 46 % des globalen Vermögens sein Eigen nennt und mehr denn je einige Wenige über die Verhältnisse aller Anderen leben, während als moralische Leitwährung das neoliberale Credo gilt, dass jede und jeder nur für sich selbst, nicht aber für andere verantwortlich ist. Stetig vertieft sich so die Kluft zwischen Anteilslosen und Anspruchsberechtigten, wie uns auch der weltweite Umgang mit Migrant*innen verdeutlicht, deren Aspirationen auf ein besseres Leben am Grenzzaun von Ceuta, im "Dschungel" von Calais oder an der Mauer zwischen den USA und Mexiko verlöschen.

Solidarität jenseits der eigenen Lebensrealität

Nun meinen nicht Wenige, man könne nicht alle berücksichtigen und nur den Angehörigen der eigenen Gruppe gegenüber Solidarität empfinden. Aber wer gehört in einer kosmopolitischen Welt, in der meine Entscheidung, welches T-Shirt ich kaufe, einen Einfluss auf die Lebensbedingungen eines Mädchens in Myanmar hat, zur jeweils eigenen Gruppe? Können wir heute Solidarität tatsächlich noch räumlich oder kulturell begrenzt denken? Ist nicht gerade der Umstand, dass wir meinen, nur mit den uns Nächsten solidarisch sein zu können, der Grund, weshalb die Sprache für Solidarität verloren gegangen ist?
Wie also kann Solidarität wieder vernehmbar artikuliert werden? Und unzweifelhaft muss sie wieder hör- und lebbar werden. Denn ebenso wie wir die global verflochtenen Netzwerke der Macht verstehen müssen, gilt es, ein Ethos zu erlernen, das sich nicht nur an diejenigen richtet, mit denen wir uns verbunden fühlen, sondern auch an jene, die wir weder kennen noch durchschauen, mit denen wir nichts zu tun haben wollen.

Leidenschaft für Welt

Was es dafür gegenwärtig vielleicht dringlicher denn je braucht, ist eine entschiedene und durchaus parteiische Leidenschaft für die Welt. Ein unerschrockenes Einmischen und ein Eintreten für die Teilhabe aller an Welt. Was es braucht, ist eine globale politische Moral. Eine Moral, die sich offen zeigt für diese Welt und die bereit ist, von dem, was sich in ihr ereignet, berührt und bewegt zu werden.
Was es braucht, ist Sensibilität für die vielfältigen Weisen von Entwürdigung und Entrechtung, Entfremdung und Isolation, für die vielen Gestalten körperlicher und emotionaler Versehrung. Was es braucht, ist eine Grammatik für das Zusammen- und Miteinander-Sein der Verschiedenen und die Bereitschaft, sich einer Welt zu öffnen, die sich von der je eigenen Lebenswirklichkeit unterscheidet.
Solidarität wäre, in diesem Licht betrachtet, nicht mehr, aber auch nicht weniger als der Name für ein Ethos der Begegnung mit den Anderen ohne deren Andersheit auszulöschen. Friedrich Nietzsche nannte das Fernstenliebe.

Sabine Hark, Soziologin, ist seit 2009 Professorin für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der TU Berlin und Leiterin des Zentrums für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung an der TU. Sie ist Gründungsmitglied der Fachgesellschaft Geschlechterstudien, Gender e.V. und gibt die Zeitschrift "feministische studien" mit heraus. Im Jahr 2015 hat sie das Aktionsbündnis WIR MACHEN DAS (wearedoingit e.V.) mitbegründet, das für eine offene, demokratische Einwanderungsgesellschaft wirbt.

© privat
Mehr zum Thema