Politische Korrektheit

Die Erschütterung des deutschen Selbstverständnisses

Syrische Flüchtlinge am Flughafen Hannover
Syrische Flüchtlinge am 04.04.2016 am Flughafen Hannover. Es sind die ersten syrischen Flüchtlinge, die legal aus der Türkei in die EU einreisen durften. © picture alliance / dpa / Foto: Holger Hollemann
Von Christian Schüle · 05.04.2016
Politische Korrektheit breche sich an der Realität Tausender ankommender Flüchtlinge. Plötzlich sei die Einsicht nicht mehr fremdenfeindlich, dass Integration kulturelle Unterschiede nicht verleugnen könne, so der Philosoph und Publizist Christian Schüle.
Im Prinzip ist Politische Korrektheit prima – man muss sie sich nur leisten können! Sie spielt ihren moralischen Edelmut dort aus, wo die beste aller Welten bereits gegeben ist, wo der Firnis des Zivilisatorischen fugendicht gelackt ist und der soziale Frieden ewiglich garantiert scheint.
Politische Korrektheit begreift bekanntlich alle gegebenen und nachweisbaren Unterschiede grundsätzlich politisch und erhebt den hehren Anspruch, sie sozial einzuebnen – was, wie der Schweizer Psychologieprofessor Carlo Strenger kürzlich notiert hat, so gut wie immer mit dem prinzipiellen Verbot einhergeht, andere Kulturen, Sitten und Verhaltenskodizees erkenntnistheoretisch zu kritisieren.
Wer dies nämlich tut, galt bis vor kurzem reflexhaft als imperialistisch, nationalistisch und natürlich rechts. Die Gleichsetzung von Kritik mit Xenophobie führte zu einer fatalen Gutgläubigkeit, Tabuisierung und moralischen Selbstgerechtigkeit, die ihre Grundsätze kurzerhand zum universellem Maßstab erhob, was nicht nur anmaßend und bevormundend ist, sondern auch weltfremd.

Auf einmal rufen Linke nach der Polizei

Und jetzt? Jetzt trifft die Kultur politischer Korrektheit auf existentielle Realität. Auf einmal fordern linke Politiker Abschiebung, auf einmal ist nicht mehr konservativer Hardliner, wer starke Polizeipräsenz, ist nicht mehr automatisch rechts, wer Law and Order einfordert.
Und auf einmal sehen wir, wievieler Mühe es schon immer bedurfte, Kulturfremde in unsere ungeheuer komplexe und komplizierte Lebens- und Arbeitswelt mit ihren Rechtsbeziehungen und Sozialverhältnissen einzubinden, da ja doch mit Eigenverantwortung, Freiheit und Partizipation schon viele Hiergeborene ihre Probleme haben.
Das Ur-Vertrauen in den guten Gang der Dinge ist gestört, und solcherlei Störung drückt sich gewöhnlich aus in Verlustangst, Kontrollangst, in der Angst vor einer als zu viel empfundenen Fremdheit im eigenen Revier.
Natürlich lässt ein schlichter Blick in den Koran, in die Exegesen der islamischen Rechtsgelehrten und vielleicht auch einmal die eine oder andere Reise in eines der faszinierenden Länder des koranischen Kulturkreises gar keine andere Deutung zu, als dass Muslime ein anderes Verständnis von Glauben, Ehre, Freiheit, Recht, Männlichkeit und Sexualität haben.

Kulturelle Unterschiede erweisen sich als Realität

Und natürlich prägt Herkunft soziales Verhalten – wie denn auch nicht! Jeder Mensch wird in einen vorgängigen sozialen und kulturellen Kontext hineingeboren, und sein Mind-set bildet sich an den Normen seines Umfelds aus. Nur wer der Realität die Ideologie überstülpt, kann das leugnen – und ist entweder ein Träumer oder ein Idiot.
Zum ersten Mal seit dem RAF-Terror der 70er-Jahre lernen wir jetzt, wie es sich anfühlt, wenn die Fundamente der eigenen Sittlichkeit erschüttert werden, wie zerbrechlich der Gesellschaftsvertrag ist.
Willkommenskultur jenseits bürgerlicher Refugee-Dinners bedeutet ja vor allem: prinzipieller Vorschussrespekt vor traditionalistischen, manchmal archaischen Lebensauffassungen anderer, uns im wesentlichen fremder Kulturkreise. Das muss man wissen und das muss man wollen. Den Fremden umerziehen zu wollen, wäre nichts anderes als staatskommissarischer Paternalismus.

Korrekte Vernunft verzichtet auf politische Korrektheit

Wer nicht will – und kein Freund einer offenen Gesellschaft kann dies im Sinn haben – dass nationalistische Ideologien Erfolg haben, dass Flüchtlingsunterkünfte in Brand gesteckt werden, dass Asylsuchende unter Pauschalverdacht geraten, dass sich ein rechtsradikaler Untergrund ausbildet, dass sich Bürgerwehren radikalisieren, der muss sein nobles Heimat-Angebot an klar konturierte Bedingungen knüpfen.
Lassen wir statt politischer Korrektheit lieber das Hochamt normativ korrekter Vernunft walten, um nicht als infantile Hass-und Irrsinns-Produzenten im asozialen Social-Media-Kosmos zu verblöden. Werben wir für das Gewaltmonopol des Staates, für das unbedingte Recht und für Null-Toleranz gegenüber denen, die die Normen der Republik nicht achten wollen – einerlei, welcher Ethnie, welcher Herkunft, welcher Schicht sie sind.
Erkennen wir aber auch immer in Diversität, Hetereogenität und Andersartigkeit uns bisher fremder Kulturkreise einen großen Gewinn für das Eigene.

Christian Schüle, 45, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der "ZEIT" und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Autor in Hamburg.




Christian Schüle
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