Politische Klasse

Warten auf ein Ende des Stillstands

Bundeskanzlerin Merkel steht im Bundestag an einem Pult und gibt eine Regierungserklärung zum Brexit ab.
Wird Kanzlerin Angela Merkel bald Ideen aus der Gesellschaft - etwa Wohlstand ohne Wachstum - aufgreifen und in politisches Handeln umsetzen? © JOHN MACDOUGALL / AFP
Von Stephan Hebel · 12.08.2016
Reformideen haben es in der Ära von Angela Merkel schwer, meint der Publizist Stephan Hebel und erinnert an die Aufbruchstimmung in den Anfangsjahren von Rot-Grün. Nur der Überdruss am Stillstand könne zur politischen Wende führen, meint Hebel.
Die Älteren werden sich erinnern: Vor 18 Jahren trat ein gewisser Gerhard Schröder an, der ewigen Kanzlerschaft von Helmut Kohl ein Ende zu machen. Das gelang, und zwar keineswegs nur, weil der Kandidat so charismatisch und der Amtsinhaber so müde erschien. Es gelang auch deshalb, weil die rot-grüne Alternative zum schwarz-gelben Konservatismus von einem verbreiteten Bedürfnis in der Gesellschaft getragen war.
Der Überdruss am bräsig präsidierenden Kohl hat zwar seinerzeit eine Rolle gespielt. Aber wichtiger ist etwas anderes, gerade für die Beurteilung unserer heutigen Situation: Schröder mit Joschka Fischer, die SPD mit den Grünen verkörperten eine erkennbare inhaltliche Alternative. Ja, vielleicht verkörperten sie zum vorerst letzten Mal ein gelingendes Bündnis zwischen Facharbeiterschaft, Prekariat und liberalem Bürgertum.

Rotgrüne Konzepte drückten Wechselstimmung aus

Der Sanierung des Sozialstaats durch Leistungsabbau, der Ignoranz gegenüber dem Aufbrechen hergebrachter Lebensformen und der weitgehenden Blindheit gegenüber ökologischen Fragen setzten sie klare Akzente entgegen: soziale Grundsicherung, Erhalt der Gesundheitsvorsorge, kreative Sicherung auskömmlicher Renten, aber eben auch die Gleichberechtigung Homosexueller, einen offenen Umgang mit Zuwanderung und den Atomausstieg.
Fast noch wichtiger: Diese Konzepte beruhten zum guten Teil auf dem, was in Bürgerbewegungen und Sozialwissenschaften die Diskussionen bestimmte. Gesellschaftliche Wechselstimmung und fortschrittliche Parteien befeuerten sich gegenseitig und führten zum rot-grünen Erfolg.

Großer Koalition fehlt klare fortschrittliche Alternative

Wohlgemerkt: Die Rede ist von der Zeit, als an Riester-Rente und Hartz IV noch nicht zu denken war. Doch für die Anfänge von Rotgrün gilt: Wählerinnen und Wähler hatten eine klare Alternative vor Augen. Vielleicht ist das ja auch der Grund, warum damals eine nationalpopulistische Partei ohne echte Chance war – anders als heute.
In unseren Tagen fehlt die Alternative. Die ehemaligen Volksparteien haben sich einander immer mehr angenähert. Nicht zufällig haben sie in sieben der elf Jahre seit Schröders Abwahl gemeinsam regiert – und so am rechten Rand Platz für die AfD geschaffen. Sie hat sich zur Sammlungsbewegung der Abstiegsängstlichen und sozial Gefährdeten gemacht.
Aber was geschieht in der Gesellschaft? Will die politisch interessierte Öffentlichkeit wirklich nur noch zwischen großkoalitionärem Verwaltungshandeln einerseits und antieuropäisch-rassistischen Parolen andererseits wählen? Ist der Konsens weltbürgerlicher Liberalität, den inzwischen alle etablierten Parteien pflegen, die einzige Antwort auf kleinbürgerliche Intoleranz? Ist ein neues Bündnis zwischen aufgeklärtem Bürgertum und sozial Benachteiligten oder vom Abstieg Bedrohten wirklich aussichtslos?
Nein, ganz so ist es nicht. Auch heute werden in Bürgerbewegungen und Protestinitiativen, in Gewerkschaften und an Universitäten viele Reformideen diskutiert, die sich in den etablierten Parteien kaum wiederfinden: etwa Gegenmodelle zu falsch verstandenen Freihandelskonzepten, Flüchtlingshilfe, Wohlstand ohne Wachstum, konsequente Energiewende, Ehe für alle. Das sind nur einige Stichwörter von vielen.

Überdruss an Merkel-Ära wird Reformen erzwingen

Allerdings gibt es bisher wenige Anzeichen dafür, dass aus all dem wieder die Triebkraft einer politischen Wende werden könnte. Offensichtlich hat das fortschrittliche Lager auch in der Gesellschaft selbst, ebenso wie in den Parteien, die Sprache nach vielen Niederlagen noch nicht wiedergefunden. Und ebenso offensichtlich fehlt ihm die Kraft, SPD und Grüne wieder auf konsequenten Reformkurs zu zwingen.
Vielleicht wird, wie damals bei Kohl, irgendwann der Überdruss am Stillstand helfen. Dass er bei Angela Merkel bald durchschlägt, ist nicht mehr ganz ausgeschlossen. Wer Veränderung will, sollte sich darauf jetzt vorbereiten.

Stephan Hebel, Journalist, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Germanistik und Romanistik, bevor er 1986 Redakteur der "Frankfurter Rundschau" wurde. Er arbeitete im Nachrichtenressort, als Korrespondent in Berlin, im Ressort Politik und als Mitglied der Chefredaktion. Seit 2011 ist er als politischer Autor tätig.

Bucherscheinungen: "Mutter Blamage. Warum die Nation Angela Merkel und ihre Politik nicht braucht" (Westend Verlag 2013), "Deutschland im Tiefschlaf. Wie wir unsere Zukunft verspielen" (Westend Verlag 2014) sowie mit Gregor Gysi: "Ausstieg links? Eine Bilanz" (Westend Verlag 2015).

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