Politik

Kraftvolle Utopien

Hauptgebäude der Universität Wien
Die Stadt Wien war eine zentrale Wirkstätte von Otto Neurath. © dpa / picture alliance / Votava
Von Thorsten Jantschek · 26.07.2014
Sozialistischer Nationalökonom, Wissenschaftsmanager und Museumsdirektor: das alles war der Wiener Philosoph und feurige Debattenredner Otto Neurath. In seiner Biografie blickt Günther Sandner auf dessen bewegtes Leben zurück.
Er war ein intellektuelles Schwergewicht, ein riesiger Kerl, ein, wie eine Freundin sich erinnert, "Hüne, groß und stark, mit langem roten Bart und kahlem Kopf, dem er einen riesigen Schlapphut trug. Eine auffallende Andreas-Hofer-Gestalt, nach der sich die Leute auf der Straße umdrehten." Und ein feuriger Debattenredner, dem von seinen Gegnern ein durchaus "demagogisches Talent" bescheinigt wurde. Schon seine Mitschüler stellten einen Tisch zwischen sich und ihn, aus Sicherheitsgründen. Und sein Philosophenkollege Moritz Schlick meinte, wie es in Günther Sandners politischer Biografie des Zentralgestirn des Wiener Kreises heißt, "so jemanden könne man jedenfalls nicht in ein Haus einladen, in dem erst Mozart gespielt und danach leise darüber gesprochen wurde."
Neuraths philosophische Prägekraft für die Denkschule des logischen Empirismus des Wiener Kreises, also einer Philosophie, die, wie Neurath schrieb, "den metaphysischen und theologischen Schutt der Jahrtausende aus dem Weg räumen" wollte, um ein naturwissenschaftliches Weltbild zu etablieren, eine auf empirischen Tatsachenaussagen basierende Einheitswissenschaft, ist gut dokumentiert, spätestens seit Friedrich Stadlers umfassender Studie "Wittgenstein und der Wiener Kreis".
Die vielen Leben des Otto Neurath
Doch wie bringt man die vielen Leben dieses intellektuellen Berserkers zusammen, der als junger Mann sich mit den Protagonistinnen der beginnenden Frauenbewegung beschäftigt, sich als utopistischer, sozialistischer Nationalökonom einen Namen gemacht hat, sich als Wirtschaftspolitiker in der Münchner Räterepublik mehr als eine blutige Nase geholt hat, als Wissenschaftsmanager die Geschicke des Wiener Kreises lenkte, als Museumsdirektor ein didaktische Piktogramm-Bildsprache entwickelt hat und als Philosoph die im Zeichen einer wissenschaftlichen Aufklärung steht?
Es ist das Verdienst von Günther Sandners Buch, die Lebensleistung Neuraths unter ein Leitmotiv stellen zu können: "Neurath wollte, dass die Menschen durch Wissen und Bildung in die Lage versetzt werden, ihr Leben zu gestalten und selbst zu bestimmen. Sie sollten ihre Interessen politisch vertreten und in einer pluralistischen, vielfältigen und in einer demokratischen Gemeinschaft verwirklichen können. Er wollte eine Demokratisierung des Wissens erreichen."
Die Stationen des politischen Menschen zeichnet Sandner mit großer Akribie nach, wie er ab 1907 als frischgebackener Nationalökonom an der Wiener Handelsakademie seinen "Abiturientenkurs" irritierte, weil ihm der Ruf, ein Sozialdemokrat, oder noch weiter links zu stehen, vorausging, er im Unterricht aber nur Hohn und Spott für den Marxismus übrig hatte und mit dieser Haltung zum widersprüchlichen Helden eines Romans wurde. Zentral für Neuraths volkswirtschaftliches Denken sind seine im Auftrag der Carnegie-Stiftung entstandenen Studien über die Ökonomie in Zeiten des Krieges während der Balkankriege 1912/13. Agrarstaaten können Kriege besser bewältigen als Industriestaaten, so die These von Neurath. Und das führte er zurück auf traditionelle Familienstrukturen aber auch auf ökonomische Organisationsformen, zum Beispiel das Genossenschaftswesen.
Treibende Kraft des Wiener Kreises
Entstanden ist daraus Neuraths Kriegswirtschaftslehre und sein Befund, dass Kriege nicht grundsätzlich negative ökonomische Effekte zeitigen müssen. In Kriegen dominieren nicht mehr die Profitinteressen privater Unternehmen, sondern der Staat kann eine Konzentration auf eine größtmögliche Produktivität geradezu erzwingen. Hier ereigne sich zugleich eine Abkehr von der Geldwirtschaft und ein Rückkehr zu einer vom Geld unabhängigen Naturalwirtschaft. Eine Wirtschaftsform also, in der die einzelnen Menschen für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse sorgen oder – und jetzt wird es für unseren Zusammenhang interessant – der Staat die Bedürfnisbefriedigung plant, etwa durch die Sozialisierung der Wirtschaft. Sandner arbeitet dies als den Kern von Neuraths ökonomischen Denkens heraus. Eine Haltung, die ihn von den marxistischen Ökonomen ebenso trennt wie vom klassischen Kapitalismus.
Klarerweise hat dieses Denken einen utopistischen Kern, aber für den Wissenschaftstheoretiker Neurath waren Utopien eben wissenschaftliche Konstrukte des Möglichen. Spätestens während der Münchner Räterepublik 1918/19 wollte er als "Präsident des Zentralwirtschaftsamts" sein Programm einer Vollsozialisierung, (das heißt nichts anderes als: Planwirtschaft) Wirklichkeit werden lassen, was selbst den Revolutionären zu weit ging. Neurath wurde nach dem schnellen Ende der Räterepublik verhaftet, verurteilt und schließlich ausgewiesen, entwickelt in Wien seine aufklärungspädagogische Bildsprache und wird zur treibenden Kraft des Wiener Kreises.
Cover: "Otto Neurath - Eine politische Biographie" von Günther Sandner
Cover: "Otto Neurath - Eine politische Biographie" von Günther Sandner© Zsolnay Verlag
Obwohl Sandner sehr genau, historisch kleinteilig und nachvollziehbar die politische Biografie Neuraths schreibt, gelingt ihm nicht ganz das, was zuletzt Jürgen Kaube mit seiner Max-Weber-Biografie glückte: nämlich ein Leben und ein Werk auch mit der kulturellen Tiefendimension eines Ortes und einer Zeit zu verbinden. Es wäre zu schön gewesen, wenn Sandner sich von seiner geglückten Konzentration auf den politischen Menschen Neurath hier und da entfernt hätte, weiter ausgegriffen hätte. Aber glücklicherweise darf man als Leser zusammen mit Sandner Buch eben auch Alan Janik und Stephen Toulmins "Wittgensteins Wien" lesen, dann entsteht ein kulturelles Panorama der Karl-Kraus-Welt der Wiener Moderne, aus der man Otto Neurath nicht wegdenken kann.

Günther Sandner: Otto Neurath - Eine politische Biographie
Zsolnay Verlag, München 2014
352 Seiten, 24,90 Euro

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