Politik des Verbots

Von Wolfgang Sofsky · 21.01.2007
Zuerst durfte man den Rasen nicht betreten, dann verbannte man Lust und Spiel in geschlossene Bezirke, und nun besetzt das Verbot die Privaträume, die Köpfe und Körper. In Kneipen und Restaurants, diesen Orten ungezwungener Geselligkeit, darf nicht mehr geraucht, in Kinderzimmern nicht mehr nach Herzenslust herumgeballert, bei Tisch nicht mehr wahllos geschlemmt und im Gespräch niemand verlästert werden. Nach einer kurzen Episode relativer Ungezwungenheit gerät der Untertan erneut unter die Fuchtel selbsternannter Sittenwächter, Sprachpolizisten und beamteter Agitatoren der Volksgesundheit.
Die Propaganda des Verbots darf man keinesfalls wörtlich nehmen. Es geht ihren Verfechtern nicht um Sicherheit und Wohlfahrt, um die Obhut von Minderheiten oder gar den Schutz vor Sucht und Krankheit. Zuerst dient das Verbot zur Beschneidung der Freiheit. Das Regime des Rechts zielt nicht auf Gerechtigkeit, sondern auf Macht und Kontrolle. Die Freiheit der Bürger ist der Obrigkeit immer suspekt. Nach jeder unerfreulichen Begebenheit ertönt sofort der Ruf nach neuen Vorschriften. Lugt aus den freien Zwischenräumen der Gesetze nicht überall das Laster, die Sünde, das Böse hervor?

Das Recht stützt seine Herrschaft auf eine Reihe populärer Fehlschlüsse: Was nicht verboten ist, ist noch lange nicht erlaubt. Was nicht geboten ist, ist auch nicht erlaubt; und erlaubt ist zuletzt nur, was auch geboten ist. Rechtsfreie Räume wirken auf die legale Exekutivgewalt wie ein Übel, das umgehend eliminiert werden muss. Wo keine Norm, da droht das Verbrechen, die Ausschweifung, der Exzess.

Sobald der Staat die Gesellschaft erobert und sich zum Sachwalter der Sittlichkeit erhoben hat, ist es mit der Freiheit der Bürger vorbei. Die Zahl der Verbote ist kaum überschaubar. Das Tempo der Fortbewegung wird limitiert, der Parkraum rationiert; demnächst wird auch die Zufahrt zu den Stadtzentren gesperrt. Verordnungen regeln die Kauf- und Konsumzeiten, untersagen steuerfreie Arbeit, riskante Wetten, gefahrvolle Abenteuer und zufälliges Spielglück. Viele Genüsse sind mit Warnungen oder Verboten belegt, obszöne Gelüste werden als Perversionen gebrandmarkt, und die Rauschdrogen, mit denen Untertanen sich von sich selbst befreien, stehen unter strikter Verfolgung.

Solche Verbote sollen die Menschen nicht voreinander schützen oder den einzelnen vor Versuchungen bewahren. Die offizielle Begründung ist nur ein Vorwand. Viele Verbote sollen die Grenzregionen der Normalität verbarrikadieren, jene Zonen, wo verfemte, animalische Triebe regieren und böse Geister aller Art ihr Unwesen treiben. Nach innen und nach außen wendet sich das Verbot: gegen hemmungslose Wünsche, gegen das Hohngelächter sozialer Verachtung, gegen die Unreinheit der Dinge, die Gefahr der Ansteckung, die Verschwendung der Energien.

Für klare Verhältnisse soll das Verbot sorgen. Das Schlüpfrige und Ekelhafte ist ihm ebenso zuwider wie die Raserei, der Zufall, der andere Zustand, in dem Arbeit und Disziplin aufgehoben sind. Verbote teilen die Welt in zwei Segmente: hier das freudlose Terrain der alltäglichen Wiederholung, dort das dunkel glitzernde Reich der Freiheit, vor dem die Menschen zurückgescheucht werden und das sie doch gleichzeitig anzieht und verlockt. Übertretungen verschaffen einen besonderen Nervenkitzel. Vorwitzig setzt man den Fuß auf den verbotenen Rasen, schallend lacht man zusammen über die bösen Witze, beschafft sich den verbotenen Alkohol heimlich, frönt den verruchten Gelüsten und schaut stets aus dem Augenwinkel, ob man beobachtet wird.

Wer dem Bösen öffentliche Aufmerksamkeit verschaffen will, der muss es verbieten. Was wie ein hilfloser Versuch der Eindämmung aussieht, verhilft dem Übel erst zu seinem Recht. Kein Verbot, das nicht überschritten werden könnte. Es wirkt wie eine Provokation. Denn das Verbot ist da, um verletzt zu werden. Die Torheit aller Legislative liegt in dem Glauben, sie könne mit Verboten das Böse aus der Welt schaffen. Das Gegenteil ist der Fall. Das Verbot schafft erst den Tatbestand, den es zu verhindern vorgibt. Eine kluge Politik zieht es daher immer vor, das Böse indirekt zu bekämpfen, indem man das Gute fördert.

Verbote fordern ständige Überwachung. Sie beschäftigen Heerscharen von Kontrolleuren, Denunzianten, Anklägern und Richtern. Keine Norm ohne Strafe. Doch ist der Abschreckungseffekt meist gering. Viele Übeltäter spekulieren darauf, nicht ertappt zu werden. An eigenen Lastern sind stets die anderen schuld. Und wer erwischt wurde, der schiebt seine missliche Lage nicht sich selbst, sondern den Aufpassern zu. Je mehr Normen, desto mehr Untaten und Verstöße und desto umfangreicher das Betätigungsfeld der Bürokratie. Nicht die Sittlichkeit ist das Ziel der Verbotspolitik, sondern das Wachstum des Apparats.

Verbote erscheinen als letztes Mittel der Zivilisation. Es sind keineswegs nur konservative Kräfte, die auf das Allheilmittel der Repression setzen. Häufig sind es gerade die Gutgläubigen im Lande, die auf das Zerplatzen ihrer Illusionen wütend mit drakonischen Maßnahmen reagieren. Erweist sich das Böse als unaustilgbare menschliche Macht eigenen Ursprungs, dann ist der moralische Kater groß. Ihm ist offenbar weder mit Erziehung oder Beratung noch mit gutem Willen beizukommen. Aber auch Verbote schaffen die Übel der Freiheit nicht aus der Welt, auch der geknebelte Mensch wird niemals so sein, wie er sein soll. Zwang hat noch niemanden gebessert. Verbote sind ebenso hilflos wie Appelle an höhere Werte. Das Handeln der Menschen richtet sich nicht nach Prinzipien. Was einer taugt, sagt ihm nicht die Einsicht und auch nicht die Pflicht, sondern seine Tugend. Tugenden jedoch sind schon seit langem in Verruf, seit jener Zeit nämlich, als man begann, Unsitten und Laster mit törichten Verboten zu bekämpfen.

Wolfgang Sofsky, Jahrgang 1952, ist freier Autor und Professor für Soziologie. Er lehrte an den Universitäten Göttingen und Erfurt. 1993 wurde er mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet. Er publizierte u.a.: "Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager" (1993), "Figurationen sozialer Macht. Autorität - Stellvertretung – Koalition" (mit Rainer Paris, 1994) und "Traktat über die Gewalt" (1996). 2002 erschien "Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg", und zuletzt der Band "Operation Freiheit. Der Krieg im Irak".