Politik der Beliebigkeit

Von Leonard Novy · 05.04.2011
Die Wahlen, die Stefan Mappus aus dem Amt gefegt haben, könnten auch den Anfang vom langen politischen Ende der Kanzlerin markieren, meint der Politologe Leonard Novy.
"Wozu noch FDP?" Diese Frage dominiert auch neun Tage nach den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg die politische Debatte. Das Abschneiden der CDU und seine Ursachen gerät dabei beinahe in Vergessenheit. Das ist bedauerlich. Schließlich ist das Wahlergebnis der CDU in Baden-Württemberg weder lokale Momentaufnahme, noch allein auf die Atomkatastrophe von Fukushima zurückzuführen. Es ist auch ein Ausdruck struktureller Probleme der CDU – einer Partei in der Identitätskrise. Und so könnten die Wahlen, die Stefan Mappus aus dem Amt fegten, auch den Anfang vom langen politischen Ende der Kanzlerin markieren.

Auch wenn die CDU rechnerisch gar nicht so viel verloren hat – der politische Schaden ist enorm. Deutlicher denn je sind in den letzten Wochen die Defizite einer Politikerin zu Tage getreten, die ihr Geschäft bekanntermaßen als fortlaufende physikalische Versuchsanordnung betrachtet. Das Hauptproblem der CDU ist indes ein grundsätzlicheres: Im "Herbst der Volksparteien", wie ihn der Politologe Franz Walter ausgerufen hat, versteht die Union die Welt, genauer die soziale Realität vieler Menschen, nicht mehr.
Das zeigt auch der Blick auf einzelne Wahlkreise im Ländle: In ihren traditionellen Gebieten hat die CDU Ergebnisse jenseits der 40 Prozent erzielt. Aber in urbanen Gegenden, wo sie primär auf "liberale" Kandidaten setzte, hat sie Stammwähler nicht mehr in hinreichendem Maße mobilisiert. Die altkonservativen Kräfte sind frustriert, die neubürgerlichen Bildungseliten wiederum wählen das grüne Original.

Die CDU war einst die Volkspartei der Republik, die natürliche Regierungspartei. Dieser "Naturzustand", prägend von Adenauer bis Kohl, ist nun selbst in ihren noch verbliebenen Hochburgen Vergangenheit. Die Stärke der CDU war zuletzt ohnehin nur eine relative, sprich der Schwäche der SPD geschuldet. Tatsächlich steckt die Partei auf Bundesebene seit zehn Jahren im 30-Prozent-Bereich und fuhr bei der letzten Bundestagswahl das schlechteste Ergebnis seit 1949 ein.

Angela Merkel hat ihrer Partei die Öffnung für gebildete, großstädtische Milieus verschrieben, und – man denke nur an die Abschaffung der Wehrpflicht oder die Einführung des Elterngeldes – zentrale Glaubenssätze der Union geschliffen. Das war prinzipiell richtig, schließlich befindet sich die Bundesrepublik in einem strukturellen Wandel, den der Politikwissenschaftler Ronald Inglehart als "stille Revolution" beschreibt: Das Wertegerüst post-materialistischer Gesellschaften verschiebt sich weg von der Union, wird säkularer und ökologischer. Nun verstehen viele Stammwähler die christlich-demokratische Welt nicht mehr – und angekommen ist die CDU in den urbanen Milieus trotzdem nicht.

Stattdessen wird sie zusehends als opportunistische Kanzlerinnen-Partei wahrgenommen, deren programmatische Leitlinien letztlich beliebig sind. Warum? Weil es der Union an einem übergeordneten, integrativen Politik- und Wertemodell für eine christdemokratische Partei in einer zunehmend säkularen Gesellschaft mangelt. Erst ein solcher Überbau jedoch würde den diversen Einzelpolitiken und -projekten Sinn verleihen, es möglich machen, sie mit langfristigen, übergreifenden Zielen zu verbinden.

Den parteiinternen Diskurs darüber hat Angela Merkel stets gemieden und der CDU auf Grundlage ihrer unumwundenen Machtposition ein irgendwie moderneres, aber eben auch beliebigeres Antlitz verliehen. Nun, da der Erfolg ausbleibt, wird die Misere der Partei offensichtlich. Die CDU steckt mitten in der Identitätskrise, denn sie hat keine Identität.

Politik lässt sich eben nicht im Labor machen – nicht einmal von einer promovierten Physikerin. Politik im Allgemeinen und Parteipolitik im Besonderen lebt von Ideen, Visionen und Werten – und vom demokratischen Streit darüber. Nur so entstehen Wettbewerb und belastbare Bindungen, nicht über den Vollzug vermeintlicher Sachzwänge und erst recht nicht durch eine Politik hektischer Handlungssimulation vor Landtagswahlen.

Das setzt freilich Willen und Fähigkeit voraus, die eigenen Werte zu reflektieren und sie programmatisch in den Diskurs einzubringen. Doch sind Werte wie "Freiheit", "Wohlstand" und "Gerechtigkeit" in den Programmen aller Parteien zu abstrakten Leerformeln ohne Aussage- und Orientierungskraft geworden. Vom Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung ganz zu schweigen. Gerade dieses Dokument macht deutlich, dass diese Unbestimmtheit kurzfristig zwar gewisse Vorteile zu versprechen mag, schon mittelfristig aber zum Problem wird. Es fehlt die Linie, es fehlt das Projekt.

Führung in der Politik bedeutet mehr, als ein Amt zu erobern und zu verteidigen. Und wer Politik auf Problemlösung und technokratisches Management reduziert, beraubt eine Gesellschaft der Offenheit der Wege und der Möglichkeit des Konflikts darüber. Der Erfolg der Grünen – das ist letztlich auch ein Protest des Bürgertums gegen diese Selbstabdankung demokratischer Politik. Bleibt abzuwarten, was Grün-Rot daraus macht.

Dr. Leonard Novy ist Politikwissenschaftler und Fellow des Berliner Think Tanks "Stiftung Neue Verantwortung". Von 2009 bis 2010 war Novy Leiter Gesprächsformate bei der AVE Gesellschaft für Fernsehproduktion mbH. Von 2006 bis 2009 war er bei der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh, beschäftigt, zuletzt als Leiter zweier Projekte zur Strategie- und Steuerungsfähigkeit der Politik. Studium der Geschichte und Politikwissenschaften an der Humboldt Universität, der University of Cambridge und der Harvard University. Wissenschaftlich wie journalistisch publiziert er zu Themen der internationalen Politik, politischen Steuerungsfähigkeit und politischen Kommunikation, zuletzt als Herausgeber des Sammelbands "Lernen von Obama? Das Internet als Ressource und Risiko für die Politik".
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