Polen und die EU

Von der Last einer "neurotischen Verfassung"

Der ehemalige polnische Botschafter in Deutschland, Janusz Reiter
Janusz Reiter, Leiter des Zentrums für Internationale Beziehungen in Warschau und ehemaliger polnischer Botschafter in Deutschland © dpa/picture alliance/Arno Burgi
Janusz Reiter im Gespräch mit Dieter Kassel · 18.12.2015
Die EU sei heute nicht mehr der zentrale Bezugspunkt polnischer Politik, sagt Janusz Reiter, Leiter des Zentrum für Internationale Beziehungen in Warschau. Jetzt spiele der Gedanke der Souveranität wieder eine starke Rolle: Polen sei ein politisch und kulturell gespaltenes Land.
Der Gründer und Leiter des Zentrums für Internationale Beziehungen in Warschau, Janusz Reiter, sieht eine stark gewandelte Rolle Polens innerhalb der Europäischen Union. Die EU sei heute nicht mehr der zentrale Bezugspunkt in der polnischen Politik, sagte Reiter im Deutschlandradio Kultur:
"Ich bedauere das, aber das ist so. Und das liegt nicht nur an Polen. Das liegt auch an der EU. Und wir sehen den Verlust dieser Funktion der Europäischen Union nicht nur in Polen, sondern auch in vielen anderen europäischen Ländern."
In der nationalen Debatte Polens spiele der Gedanke der Souveranität wieder eine starke Rolle, sagte Reiter. Das sei auch in vielen anderen westeuropäischen Ländern so. In Bezug auf die Flüchtlingsproblematik komme es besonders auf die innere Verfassung einer Nation an, betonte er. Polen sei heute ein politisch und kulturell gespaltenes Land. Der Gedanke, dass dieses Land jetzt Flüchtlinge aufnehmen solle, verursache bei ihm "gemischte Gefühle":
"Bei aller Neigung zur Solidarität: Ich glaube, es wäre sehr schwer, diese Menschen heute zu integrieren. Um so mehr müssten unsere Länder in anderen Formen versuchen, einen Beitrag zu leisten. Aber die Aufnahme von Flüchtlingen in Länder, die heute in einer – ich würde sagen, neurotischen Verfassung sind - , das wäre innenpolitisch schon sehr gewagt oder gar riskant."
Integrative Kräfte in der EU sind in der Defensive
Die integrativen Kräfte in der Europäischen Union seien derzeit in der Defensive, meinte Reiter. Es fehlten große, gemeinsamen Projekte, stattdessen gebe es viele Streitpunkte. Das habe bestimmte Auswirkungen:
"Wir haben eine eindeutige Re-Nationalisierung der Politiken in der Europäischen Union. Darüber wird fast jeden Tag kritisch gesprochen. Manche sehen das mit Hoffnung – zu denen gehöre ich nicht -, manche sehen das mit Sorge. Das ist eben auch meine Sorge. Aber das lässt sich nicht leugnen."
Die EU verkörpere nicht mehr – so wie früher - die Hoffnungen der Europäer, äußerte Reiter. Das habe Konsequenzen für die Politik aller Länder. Polen mache seiner Meinung nach einen Fehler bei der Nachahmung bestimmter Entwicklungen:
"Man stellt eben zum Beispiel einen wachsenden Egoismus fest und glaubt, auch entsprechend egoistisch handeln zu müssen. Ich glaube, das ist nicht richtig. Polen hat auch Einfluss auf die Europäische Union. Insofern würde ich mir Polen auf der Seite derer wünschen, die versuchen, diese Entwicklung aufzuhalten."


Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Keine Verteilung von Flüchtlingen nach festen Vorgaben aus Brüssel, keine Aufgabe der nationalen Souveränität zugunsten eines gemeinsamen Grenzschutzes, keine Reform nach britischen Wünschen, nur damit Großbritannien in der Gemeinschaft bleibt. Es gibt im Moment viele Länder, die sich einer Lösung der großen Probleme, die in der EU anstehen, eher verweigern. Und eines dieser Länder ist auch Polen, ein Land, das lange Zeit als Mitglied galt, das gerne und mit großem Erfolg Teil der Gemeinschaft war.
Ob sich das etwa verändert hat, wie die Rolle Polens in der EU gerade aussieht, darüber wollen wir jetzt mit Janusz Reiter reden. Er ist Gründer und Leiter des Zentrums für Internationale Beziehungen in Warschau, schönen guten Morgen, Herr Reiter!
Janusz Reiter: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Was bedeutet die EU im Moment für Polen?
Reiter: Die EU ist nicht mehr das große normative Projekt, an dem sich Polen orientierte, der zentrale Bezugspunkt in der polnischen Politik. Ich bedaure das, aber das ist so und das liegt nicht nur an Polen, das liegt auch an der EU. Und wir sehen den Verlust dieser Funktion der Europäischen Union nicht nur in Polen, sondern auch in vielen anderen europäischen Ländern. Das hat Konsequenzen für die polnische Politik, aber das ist die Realität, die wir einfach zur Kenntnis nehmen müssen – hoffend, dass sich das ändert! Aber das ist zurzeit so.
Eindeutige Re-Nationalisierung innerhalb der EU
Kassel: Aber wenn Sie sagen, das liegt auch an der EU, inwiefern ist denn die EU schuld daran, dass aus polnischer Sicht sich die Bedeutung verändert?
Reiter: Also, die integrativen Kräfte in der Europäischen Union sind in der Defensive, das ist ganz klar. Wo sind die großen Projekte, die die Europäer heute vereinen? Welches Bild geben wir ab als Europäische Union? Wir streiten uns um alles, wir haben eine eindeutige Re-Nationalisierung der Politiken in der Europäischen Union. Darüber wird fast jeden Tag gesprochen, kritisch. Manche sehen das mit Hoffnung, zu denen gehöre ich nicht, manche sehen das mit Sorge. Das ist eben auch meine Sorge, aber das lässt sich nicht leugnen. Wo Sie auch immer hinschauen, ob nach Süden oder nach Frankreich, Deutschland hat da eine gewisse Sonderstellung in der Europäischen Union.
Die Europäische Union verkörpert nicht mehr so wie früher die Hoffnungen der Europäer. Und das hat eben Konsequenzen für die Politik aller Länder. In Polen wird, glaube ich, ein Fehler gemacht: Diese Entwicklung wird beobachtet – und ich glaube, diese Beobachtung stimmt – und in Polen glauben viele, dass man sich dementsprechend verhalten muss. Also: Man stellt zum Beispiel eben einen wachsenden Egoismus fest und glaubt, auch entsprechend egoistisch handeln zu müssen. Ich glaube, das ist nicht richtig, Polen ist ein zu großes Land um einfach zu sagen, na ja, so geht es eben, da geht das Land in die Europäische Union und wir tun nur das, was die anderen auch tun. Nein, Polen hat auch Einfluss auf die Europäische Union! Insofern würde ich mir Polen auf der Seite derer wünschen, die versuchen, diese Entwicklung aufzuhalten!
Viele Länder wollen den Westen nicht mehr kopieren
Kassel: Aber wenn Sie sagen, dieser gemeinsame Gedanke, auch dieser Nutzengedanke hat nachgelassen: Polen ist – das war mein Eindruck – doch auch deshalb gerne Mitglied der Europäischen Union geworden, weil es auch zeigen wollte, wir sind ein mitteleuropäisches Land und kein osteuropäisches, wie oft behauptet wird, und wir sind eben nicht mehr unter dem Einfluss Russlands, sondern wir sind jetzt unter dem Einfluss Mittel- und Westeuropas!
Reiter: Das stimmt, ja, das stimmt. Das Bedürfnis nach dem Dazugehören war sehr stark. 25 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, oder 26 Jahre, ist dieses Bedürfnis schwächer. Das Sicherheitsbedürfnis spielte eine sehr starke Rolle. Das spielt es noch immer, aber es ist keine so dominierende Kraft wie vor einem Vierteljahrhundert.
Man muss sich auch eins bewusst machen: Diese Länder befinden sich seit einem Vierteljahrhundert in der Phase des Aufholens. Früher in den 90er-Jahren oder noch vor zehn Jahren war das Argument: Wir müssen aufholen, wir müssen die Rückständigkeit abbauen. Das wirkte irgendwie disziplinierend. Aber diese Rolle, immer wieder aufzuholen etwas, das entfernt ist, das ist auf die Dauer keine sehr attraktive Rolle.
Und man sieht in all den Ländern hier in der Region eine gewisse Ermüdung. Sie wollen nicht mehr nur eben den Westen kopieren sozusagen. Zumal der Westen heute auch eben nicht in einer so guten Form steht, wie das am Anfang der Fall war. Also, die Beobachtung der westeuropäischen Partner hat eine große Rolle für die Positionierung der Länder in Ost- und Mitteleuropa.
Die innere Verfassung der Nationen
Kassel: Wir haben gestern mit dem CDU-Politiker Elmar Brok hier gesprochen, der seit 1980 im Europäischen Parlament sitzt. Und natürlich auch darüber geredet, dass viele mittel-, osteuropäische Länder wie auch Polen nicht bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen, vor allen Dingen nicht, wenn es einen festen Verteilungsschlüssel aus Brüssel gibt.
Und Elmar Brok hat sinngemäß gesagt, das habe eben auch etwas mit der Vergangenheit zu tun: Zu Zeiten des Warschauer Paktes sei man eben verpflichtet gewesen, immer auf Befehle aus Moskau zu reagieren. Und man wolle jetzt keine Befehle aus Brüssel haben. Können Sie mit dieser Theorie was anfangen?
Reiter: Ja, das heißt, der Gedanke der Souveränität spielt wieder – anders als vor zehn oder 15 Jahren –, wieder eine starke Rolle in der nationalen Debatte. Aber nicht nur in Polen oder nicht nur in der Tschechischen Republik, dieser Gedanke spielt auch in vielen anderen westeuropäischen Ländern eine wachsende Rolle.
Aber ich glaube, wichtiger ist, wenn es um die Flüchtlingsproblematik geht, die innere Verfassung der Nationen der Länder. Hier denke ich zum Beispiel an Polen: Polen ist heute ein politisch, aber auch kulturell gespaltenes Land. Ich muss sagen, der Gedanke, dass dieses Land jetzt Flüchtlinge aufnimmt aus einer Region, von der man wirklich nichts weiß, mit der man null Erfahrung hat - dieser Gedanke weckt bei mir so gemischte Gefühle. Bei aller Neigung zur Solidarität, ich glaube, es wäre sehr schwer, diese Menschen heute zu integrieren. Umso mehr müssten unsere Länder in anderen Formen versuchen, einen Beitrag zu leisten. Aber die Aufnahme von Flüchtlingen in Länder, die heute in einer, ich würde sagen, neurotischen Verfassung sind, das wäre innenpolitisch, na, schon sehr gewagt oder gar riskant.
Kassel: Janusz Reiter, der Gründer und Leiter des Zentrums für Internationale Beziehungen in Warschau über Polen und seine Rolle in Europa und der Welt. Herr Reiter, vielen Dank für das Gespräch!
Reiter: Wiederhören nach Warschau!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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