Polen

Ein großer und nobler Geist

Bronisław Geremek
Bronisław Geremek im Jahr 2008, kurz vor seinem Tod © dpa / picture alliance / Maxppp
Von Patrick Garber · 18.04.2014
Reinhold Vetter liefert in "Bronisław Geremek" reichlich Fakten von der Solidarność-Bewegung bis zum Eintritt in die EU. Der Leser begreift, warum gerade in Polen der Untergang des Real-Sozialismus seinen Anfang nahm.
"Ein Gespräch über Dich ist ein Gespräch über Polen“, das sagte Tadeusz Mazowiecki, Polens erster demokratisch gewählter Ministerpräsident seit dem Zweiten Weltkrieg, 2008 am Sarg seines langjährigen Weggefährten Bronisław Geremek. Und Geremeks Biograph Reinhold Vetter folgt diesem Motto.
Seine Lebensbeschreibung des "Strategen der polnischen Revolution", wie er ihn nennt, ist ein sorgfältig recherchiertes Stück Zeitgeschichte unseres Nachbarlands, das vielen Deutschen immer noch fremd ist.
Es gibt kaum ein Foto aus der Gründungszeit der Gewerkschaft "Solidarność" 1980/81 und der Wendezeit in Polen 1989/90, auf dem er nicht zu sehen ist, der Mann mit dem Vollbart, häufig verschmitzt lächelnd: Bronisław Geremek. Er war nie so berühmt wie der Volkstribun und Friedens-Nobelpreisträger Lech Wałęsa.
Doch "… in politischer Sicht gab er die entscheidenden strategischen Anstöße für die Transformation des kommunistischen Systems, die mit dem Runden Tisch im Frühjahr 1989 eingeleitet wurden. Deshalb gehört er auf Seiten der früheren demokratischen, antikommunistischen Opposition (…) zu den Gründungsvätern des neuen Polen.“
Sohn einer assimilierten jüdischen Familie
Bis Geremek das werden konnte, musste er – wie sein Biograf es ausdrückt – viele "Häutungen" durchmachen.
Geboren wurde er 1932 in Warschau als Benjamin Lewartow, Sohn einer assimilierten jüdischen Familie. Ein Junge, der das Warschauer Ghetto und den Holocaust nur überlebte, weil christliche Polen ihn versteckten und ihm den slawisch klingenden Namen gaben, unter dem er später bekannt wurde. Er selbst sprach zeitlebens sehr wenig über die Zeit im Ghetto.
"Sein Trauma muss schrecklich gewesen sein."
Es folgten weitere Häutungen: Nach dem Zweiten Weltkrieg kurze Hinwendung zum Katholizismus, Dienst als Ministrant, danach Agnostiker. Als junger Mann wurde er Marxist, mitten im Stalinismus trat er in die kommunistische Partei ein. Was sein Bild für Manche verdüstert.
Cover des Buches "Bronislaw Geremek" von Reinhold Vetter
Cover des Buches "Bronislaw Geremek" von Reinhold Vetter© Berliner Wissenschafts-Verlag
"In Polen sind es seine jüdische Herkunft und jugendliche Begeisterung für den Kommunismus, die Ressentiments hervorrufen bzw. für Kontroversen sorgen. Nur selten denkt man an der Weichsel darüber nach, ob nicht ein Zusammenhang zwischen Geremeks jüdischem Schicksal während der deutschen Besetzung Polens im Zweiten Weltkrieg und seiner Begeisterung für den kommunistisch gesteuerten Wiederaufbau seiner Heimat ab 1945 besteht."
Diese Aussage ist typisch für die Art, wie Reinhold Vetter über Bronisław Geremek schreibt. Er liefert eine Fülle von Fakten, ist aber zurückhaltend mit Wertungen. Ihm geht es vor allem darum, diesen Mann, der in keine Schublade passt, zu verstehen – nicht nur den Holocaust-Überlebenden, sondern vor allem den Gelehrten, der er vor, während und nach seiner Zeit als Dissident und Politiker war.
"Bronisław Geremek war einer der größten polnischen Historiker und hat wesentlich dazu beigetragen, dass die polnische Geschichtswissenschaft auf dem Gebiet der Mediävistik internationales Ansehen genießt."
Mediävistik, die Geschichte des Mittelalters, war für die Gralshüter der kommunistischen Lehre ein uninteressantes Orchideenfach, erläutert Vetter. Das bedeutete für Geremek relativ viel wissenschaftliche Freiheit – inklusive Reisen in den Westen. Er wurde zum weltoffenen Polyglott mit jeder Menge Westkontakte. Eine gute Voraussetzung dafür, später erst informeller Chefdiplomat der Solidarność-Bewegung und dann offizieller Außenminister der Republik Polen zu werden.
Doch zuvor der Bruch mit dem Real-Sozialismus. Obwohl Geremek schon länger in Kontakt mit Dissidenten gestanden hatte, trat er erst 1968, nach der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings, aus der kommunistischen Partei aus.
"Der späte Austritt aus der Partei entsprach dem intellektuellen Habitus des Historikers Geremek, in längeren historischen Abschnitten zu denken."
Bild der verschiedenen Strömungen der polnischen Opposition
Es folgt der spannendste und verdienstvollste Teil dieser Biografie. Minutiös und aus einer Fülle polnischer Primärquellen schöpfend, zeichnet Reinhold Vetter Bronislaw Geremeks Weg als Dissident in den 70er- und 80er-Jahren nach. Dabei malt er ein Bild der verschiedenen Strömungen der polnischen Opposition von außerordentlicher Tiefenschärfe.
Kein Heldenepos, sondern eine schlüssige Erklärung dafür, warum schließlich 1980 der Streik der Danziger Werftarbeiter das kommunistische System Polens in den Grundfesten erschüttern konnte: Weil Intellektuelle wie Bronisław Geremek und Tadeusz Mazowiecki mit ausgearbeiteten Konzepten und langjähriger strategischer Erfahrung die Arbeiter berieten.
1989 schließlich die Gespräche zwischen Staatsführung und Opposition am Runden Tisch. Dabei spielte Geremek eine Schlüsselrolle als Mit-Initiator, vor allem aber als Problemlöser in scheinbar ausweglosen Verhandlungssituationen.
"Darüber hinaus zählte Bronisław Geremek zu den Wegbereitern für neue demokratische Verhältnisse in ganz Ostmitteleuropa, da die von ihm mitgeprägte Methode der Verständigung am Runden Tisch später auch in Ungarn, der damaligen Tschechoslowakei und der DDR angewandt wurde."
Danach folgten Rückschläge. Lech Wałęsa nominierte nicht ihn für das Amt des ersten demokratisch gewählten Ministerpräsidenten Nachkriegs-Polens, sondern den katholischen Intellektuellen Tadeusz Mazowiecki.
"Ohne Zweifel spielte auch Geremeks jüdische Herkunft für Wałęsa eine Rolle. Zwar wäre es falsch, ihn für einen Antisemiten zu halten. Doch er kannte bestimmte Aversionen in Teilen der polnischen Gesellschaft und bezog diese in seine Überlegungen mit ein."
Ein faszinierendes Leben
Und als Polen 2004 der Europäischen Union beitrat und Geremek als polnischer Abgeordneter ins Europaparlament einzog, verhinderte dort "schwarz-roter Filz", wie Vetter es nennt, dass er als erster Osteuropäer Parlamentspräsident werden konnte.
Ein faszinierendes Leben, ein großer und nobler Geist, der Geschichte entscheidend mitgestaltet hat, so beschreibt Reinhold Vetter seinen Protagonisten. Schon allein als Biografie wäre das bisweilen etwas spröde geschriebene Buch durchaus lesenswert. Aber es ist mehr: eine gründlich recherchierte Sozial- und Geistesgeschichte der Opposition in der Volksrepublik Polen, durch die der Leser begreift, warum gerade in diesem Land der Untergang des Real-Sozialismus seinen Anfang genommen hat.
Reinhold Vetter: Bronisław Geremek. Der Stratege der polnischen Revolution
Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2014
415 Seiten, 37 Euro
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