Pola Oloixarac: "Kryptozän"

Der Hacker als romantischer Held

Zahlreiche Netzwerkkabel stecken in einem Serverraum in Berlin in einem Netzwerkverteiler.
Aktueller Aufhänger für Oloixaracs Roman ist die Tatsache, dass Argentinien die biometrischen und genetischen Daten seiner Bürger in einem Ausmaß erfasst wie kaum ein anderes Land der Welt. © picture alliance / dpa / Matthias Balk
Von Katharina Döbler · 05.10.2016
Im neuen Roman "Kryptozän" der Argentinierin Pola Oloixarac digitalisieren Forscher den gesamten lateinamerikanischen Genpool und erschaffen so eine monströse virtuelle Welt. Die explosive Geschichte um einen Hacker-Star legt nahe: Die Zukunft hat schon begonnen.
Nach dem Anthropozän, dem Zeitalter des Menschen, beginnt das Kryptozän. Oder sind wir schon mittendrin? Der gleichnamige Roman der Argentinierin Pola Oloixarac ist so nahe an der Gegenwart angesiedelt, dass kein Leser daran zweifeln wird: Die Zukunft hat schon begonnen.
Eine Forschergruppe digitalisiert den gesamten lateinamerikanischen Genpool und erschafft so eine monströse virtuelle Welt, die zugleich Machtinstrument und Abbildung der Realität ist. Das Projekt Stromatolithon ist eine Art gigantisches Cyber-Kryptogramm, vor dem Vorstellungen von Datenschutz ebenso zwangsläufig dahinschwinden wie bei jedem Kind irgendwann der Glaube an den Weihnachtsmann.

Linkes Denken und männliche Sexualität

Pola Oloixarac hat mit ihrem ersten, leider nicht auf Deutsch erschienenen, Roman "Teorías salvajes" (Wilde Theorien), in dem sie linkes Denken und männlich bestimmte Sexualität auf ziemlich drastische Weise vor- und zusammenführte, für eine Menge Aufsehen gesorgt. In gewisser Weise führt die inzwischen auch im englischen Sprachraum sehr präsente Autorin mit "Kryptozän" das Verfahren fort, Biologie und Gesellschaftstheorie auf explosive Weise zusammenführen. Nur dass es diesmal um eine Verschmelzung von Biologie und Informatik geht. Und, nicht zu vergessen: um Politik. Und Wirtschaft.

Mischung aus Reisebericht und Pornografie

Der Roman beginnt auf einer Forschungsreise im 19. Jahrhundert, die in einer halluzinatorischen Orgie endet. Die Grenze zwischen Mensch, Tier, Pflanze und Mineral haben sich in einer deliranten Nacht, oder vielen Nächten, oder einem geheimen, kryptischen Zeitalter aufgelöst. Wie Oloixarac das beschreibt, in einer überzeugenden Mischung aus Reisebericht, Andeutung und Pornografie, ist überaus gekonnt – nicht nur in der sprachlichen Mimikry, sondern auch in der Kunst der Phrasierung, der Modulation und der Drastik an der richtigen Stelle.

Spezialität: schlafende Viren

Etwa hundert Jahre später beginnt eine andere Geschichte in einer legeren, vertrauteren Tonart: Cassio Liberman Brandão da Silva wird gezeugt, ein jüdisch-argentinisch-brasilianisches Genie, das in den 1990er-Jahren zum Star der internationalen Hackerszene wird. Seine Spezialität: schlafende Viren, die weltweit auf den Servern liegen und irgendwann, wenn ihr Schöpfer es will, ihren programmierten Auftrag erfüllen. Cassio ist der Inbegriff des Nerds - zugleich aber die klassische romantisch-romanhafte Heldenfigur, die die Welt erlösen oder in die Verdammnis stürzen kann. Seine Geschichte ist offenkundig angelehnt an Williams Gibsons "Neuromancer"-Trilogie, die in den 1980er-Jahren die Bibel der Computerfreaks war – jedenfalls solcher, die Bücher lasen.
Aktueller Aufhänger für Oloixaracs Roman ist die Tatsache, dass Argentinien die biometrischen und genetischen Daten seiner Bürger in einem Ausmaß erfasst wie kaum ein anderes Land der Welt. Die Möglichkeiten der Bioelektronik spielt sie fiktional durch, und erschafft mit Hilfe eines riesigen Quantencomputers, biologisch umgewandelten IT-Viren, viel Wissen, Intelligenz und beachtlicher Sprachkunst: das Kryptozän.

Pola Oloixarac: "Kryptozän"
Aus dem Spanischen von Timo Berger
Wagenbach Verlag, Berlin 2016
192 Seiten, 20,00 Euro

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