Poet mit Heimweh

15.11.2006
Der Dichter und Liedermacher Wolf Biermann wird heute 70. War er in früheren Zeiten als bissiger, kämpferischer Liedermacher bekannt, so zeigt er sich in seinem neuen Gedichtband "Heimat" als von Heimweh trunkener, altersweiser Dichter. Seine lyrische Lebensbilanz gipfelt in der Erkenntnis: Heimat ist da, wo der geliebte Mensch ist.
Der Name Wolf Biermann ist wie der seines literarischen Vorbildes Heinrich Heine mit Deutschlands Geschichte in konfliktreicher Weise verknüpft. 1936 in Hamburg geboren, zog es den aus einer Arbeiterfamilie stammenden Biermann 1953 in das junge Staatsgebilde DDR, dessen sozialistische Ideale und kommunistische Zukunftsvisionen die Neugierde des Sechzehnjährigen weckten. Er studiert Wirtschaftswissenschaften sowie Mathematik und Philosophie an der Humboldt-Universität und versucht sich als Regieassistent an Bertolt Brechts Theater, dem "Berliner Ensemble".

Doch bereits Ende der 50er Jahre zeichnet sich ab, dass der Lyriker und Liedermacher, Bänkelsänger und streitbare Essayist an einem kollektiven Chorgesang nicht interessiert ist. Biermanns radikaler Ton setzt mit kraftvollem Timbre auf ein selbstbewusstes Ich, und das in einer Zeit, wo in der DDR-Literatur offiziell noch nicht einmal gestorben werden durfte.

Als unerschrockener Nachfahre des französischen Dichters François Villon werden Biermanns Gedichte, Balladen und Liedtexte vom sozialistischen Parteiapparat als Gefahr diagnostiziert. Im November 1965 erhält er Auftritts- und Publikationsverbot, am 13. November 1976 wird er während eines offiziell genehmigten Konzerts in Köln ausgebürgert. Sein Lied vom "preußischen Ikarus" nimmt fast prophetisch den eigenen Sturz ins Niemandsland vorweg.

Doch Biermann verstummt nicht, er schreibt weiter, dichtet, komponiert und mischt sich unerschrocken in das politische Geschehen ein.

Nun feiert das kosmopolitische Multitalent seinen 70. Geburtstag und sich selbst mit neuen Gedichten, die zwischen 1993 und 2006 entstanden und unter dem programmatischen Titel "Heimat" erschienen sind. In geradezu anmaßender Frische werden darin die Facetten eines bekannten und - man möchte es kaum glauben -, noch unbekannten Biermann entblättert.

Seine poetische Reise führt von der flachen Flensburger Förde, die von "grauräudigen Wolken" verhangen ist, in die steinigen Pyrenäen, wo einst Walter Benjamins Flucht aus Nazideutschland misslang, pausiert auf französischen Märkten, um mit Entzücken Austern zu "schlampampern" und kehrt dann über den Umweg Israel nach Berlin zurück. Dort sucht das lyrische Ich im Scheunenviertel vergeblich nach vertrauten Gesichtern und weiß ja längst, dass die "guten alten schlechten Zeiten" vorbei sind, dass es Heimweh immer geben wird, doch keine Heimkehr.

Mehr als der Begriff Heimat durchzieht deshalb ein starkes Heimweh die Texte, flankiert von einer schmerzenden Sehnsucht, die geradezu besoffen macht. Dass Heimat am ehesten dort zu finden ist, wo der geliebte Mensch weilt, kommt deshalb als reiche Lebensbilanz und nicht als vermeintliche Weisheit eines "alten Poeten" hervor, der "zwei Diktaturen" fraß und "mehrere Epochen schluckte".

Rezensiert von Carola Wiemers

Wolf Biermann: "Heimat. Neue Gedichte"
Hoffmann und Campe 2006
175 Seiten. 17,95 Euro.