Poet der Vergänglichkeit

31.05.2008
Gedichte von einzigartiger sprachlicher Eleganz und zerbrechlicher Schönheit versammelt der erste Band der Werkausgabe von Wolfgang Hilbig. Das Besondere: Es sind auch bisher unveröffentlichte Verse aus dem Nachlass enthalten, von denen man dachte, sie seien verschwunden.
Es ist eine Sensation! Der erste Band der Werkausgabe von Wolfgang Hilbig enthält neben 188 bereits bekannten Gedichten weitere 153 nachgelassene, bislang unveröffentlichte Verse des Sprachvirtuosen aus dem sächsischen Meuselwitz. Das ist ein Auftakt nach Maß für die auf sieben Bände geplante Ausgabe seiner Schriften.

Viel zu früh ist Wolfgang Hilbig am 2. Juni 2007 im Alter von 65 Jahren verstorben. Dass die deutsche Gegenwartsliteratur mit Hilbigs Tod einen ihrer bedeutendsten Autoren verloren hat, dringt erst allmählich ins Bewusstsein der literaturinteressierten Öffentlichkeit. Wolfgang Hilbig hat getan, was man von einem Dichter erwarten darf: Er hat geschrieben.

Doch ein "nur" schreibender Dichter wird in der medialen Welt von der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Der ehemalige Heizer, der 1985 die DDR verließ und in den Westen ging, war nur selten in Talkshows zu sehen und noch seltener hat er sich zu seinem Werk geäußert. Das Fernsehen war nicht Hilbigs Medium. Er wollte nicht im Bild erscheinen, sondern von Bildern erzählen. "Bilder vom Erzählen", so lautet der Titel seines letzten, 2001 erschienenen Gedichtbandes, in dem sich das Gedicht "Saturnische Ellipsen" findet:

"Ach meine Zeit ist um
war schon vorbei als ich zum ersten Mal von ihr gehört."


Wolfgang Hilbig wollte gelesen werden! Der erste Band der Werkausgabe ist eine Einladung, diesem Wunsch zu folgen. Seine Gedichte sind von einer einzigartigen sprachlichen Eleganz. Die Bilder, die er in seinen Versen entwirft, sind so fragil, dass sie im nächsten Moment zu zerbrechen drohen. Er beschreibt die Risse, die bereits zu sehen sind, er sieht die Schatten, die die Landschaft verdunkeln - seine Texte sind bis zum Zerspringen mit Vergänglichkeit gefüllt.

Debütiert hat Hilbig 1979 mit dem Lyrik-Band "Abwesenheit", den der Autor in der DDR nicht veröffentlichen durfte. Darin heißt es:

"Wir werden nicht vermißt
unsere worte sind gefrorene fetzen".


Hilbigs Gedichte gleichen Magazinen. In ihnen ist aufgehoben, was erinnert werden muss.

Lange Zeit musste man davon ausgehen, dass seine vor 1965 geschriebenen Texte verloren gegangen sind. Er selbst sprach davon, dass er sie verbrannt habe. Nun ist im Nachlass des Dichters ein durchkomponierter Band mit dem Titel "Scherben für damals und jetzt" aufgetaucht. Das offensichtlich von der Staatssicherheit beschlagnahmte Exemplar muss Hilbig nach 1989 von der Gauck-Behörde zurückbekommen haben. Darin findet sich das Gedicht "Frage", das bereits jenen Ton anschlägt, der Hilbigs spätere Texte auszeichnet:

"Ach, Gott, es rinnen meine Tage
Wie träges Öl so ruhig hin. Gib Antwort mir auf meine Frage,
Wann und wo ich glücklich bin."


Diese Frage stellt sich Hilbig nicht nur in seinen Gedichten, sondern auch in seiner Prosa. Einem der letzten Gedichte aus dem Nachlass mit dem Titel "Selbstbildnis" (2001) ist keine Antwort auf das "Wann" und "Wo" eingeschrieben, vielmehr verweist es auf Abgründe, indem die Wege andeutet werden, die der Suchende gegangen ist:

"Die letzte Bleichsucht hat die lange Nacht
auf mein Gesicht verwandt: ich gehe wie ein Alter
aus und ein in meinem schlagseitigen Zimmer
das halb gekentert ist und keine Fahrt mehr macht
und weiß
gedunsen weiß im Fenster spiegle ich mich halb
halb schwind ich hin: im Uferlosen abgesoffner Schwimmer."

Man darf gespannt sein, welche Schätze sich noch in Hilbigs Nachlass finden. Doch Entdeckungen lassen sich bereits jetzt in seinen Texten machen. Wo man sie auch aufschlägt, wird man von Schönheit umfangen.

Rezensiert von Michael Opitz
Wolfgang Hilbig: Werke 1: Gedichte
Herausgegeben von Jörg Bong, Jürgen Hosemann und Oliver Vogel
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2008
538 Seiten, 22,90 Euro.
Mehr zum Thema