Poesie

Gedichte aus einer barbarischen Welt

Blick auf Sarajevo, aufgenommen am 14.11.2006.
Blick auf Sarajevo, aufgenommen 2006 © picture alliance / dpa / Matthias Schrader
Von Carsten Hueck · 18.05.2015
Umgeben von Gewalt und Menschenverachtung schreibt der Lyriker Stevan Tontic seine Gedichte - in Sarajevo, wo 1992 Bücher brannten. Seine Gedichte aus dieser Zeit sind nun in dem Band "Der tägliche Weltuntergang" zu lesen.
Die Sprache Rilkes, Trakls und Hölderlins lernte der serbische Schriftsteller Stevan Tontic bereits in der Schule. 1946 in Sanski Most, heute Bosnien, geboren, wuchs er in Titos Nachkriegsjugoslawien auf. Es gab gerade keinen Lehrer, der Russisch oder Englisch hätte unterrichten können, dafür einen, der Deutsch konnte. Erst prägte diese frühe Erfahrung seine Dichtung, später sein Leben.
Stevan Tontic war ein anerkannter Lyriker und arbeitete als Lektor in Sarajevo, im größten Verlag des Landes, als Anfang der 1990er-Jahre der Krieg in seiner Heimat ausbrach. Mit der Waffe kämpfen, das wollte er nicht, sich von den Bomben und Kugeln seiner Landsleute umbringen lassen ebenso wenig. Tontic ging ins Exil – nach Deutschland. Viele Jahre lebte er dort, erhielt mehrere literarische Preise, übersetzte Peter Huchel und Christoph Meckel.
Seine Gedichte aus dieser Zeit sind nun in dem Band "Der tägliche Weltuntergang" zu lesen. Ein paar wurden bereits in kleineren Publikationen auf Deutsch veröffentlicht, hier nun sind sie Teil einer Auswahl, die Tontic' gesamtes Schaffen der Jahre 1968 bis 2013 vorstellt.
"Ich lästere und weihe" heißt das erste Kapitel. Da ist schon die Rede von "Verzweiflung" und "Nichtigkeit" eines lyrischen Ichs, das bis heute dem menschlichen Leid nahe ist. Aber es spricht auch von "Seele" und "Engel", einer höheren, dauernden Instanz.
Einflüsse von Brecht und Rilke
Tontic neigt zu Lyrismen, doch bricht der Dichter sie immer wieder mit Ironie, Einflüsse Brechts finden sich neben denen von Rilke, eine Autofahrt wird zur Apotheose, Irdisches steht gleichberechtigt neben Transzendentem, die Fahrt durch die Natur erhebt den Menschen:
"Der Motor röchelt väterlich. Stählerne Muskeln
Tragen dich zu Gott, in die Harmonie.
Der Hintern ist eine gute Grundlage,
Ein Fundament der Lebewesen."
Tontic Themen sind nicht privat, immer aber persönlich.
"Nichts geschieht, Mutter.
Vorkriegsstille, Vater",
heißt es im Gedicht "Im seichten Europa, im tiefen Asien". Als ob der Dichter das Inferno schon vorausahnt, in das ihn der Verlauf der Geschichte schleudern wird.
Hält unter Lebensgefahr an der Dichtung fest
"Glanz und Finsternis" heißt das zweite Kapitel und dort finden sich die Gedichte, die aus unmittelbarer Kriegserfahrung entstanden. In ihnen wird deutlich, dass der Dichter auch im belagerten Sarajevo, unter Lebensgefahr, an der Dichtung festhält, den Glanz der Existenz nicht von der Finsternis trennen will.
"Bei minus dreißig
fallen die Finger ab.
Wer jetzt kein Grab hat
kriegt auch keines mehr."
Tontic beschreibt häufig kurze Momente des Glücks, sein Staunen, in einer barbarischen Welt, im Krieg, im Exil, immer wieder doch Menschlichkeit zu begegnen – und sei es in Form von einem Paar Socken, das ihm die Nachbarin bei seiner Flucht aus Sarajevo mitgibt.
Trost bieten diese Gedichte nicht. Wir lesen von Entmenschlichung und Tod, von Gewalt, Schmerz und Verzweiflung am Rande des Sagbaren. Aber wir lesen eben auch von einem, der sich an das Wort klammert, gegen jede Vernunft, aus Trotz und der Überzeugung, dass es auch angesichts abgeschlagener Köpfe etwas zu sagen gibt. Der Titel dieses Bandes macht das deutlich. "Der tägliche Weltuntergang" beschönigt nichts. Doch – täglich? Das ist ein grausames Versprechen – aber impliziert immerhin: Beständigkeit und Zukunft.

Stevan Tontic: Der tägliche Weltuntergang
Aus dem Serbischen von Sabine Fahl, Cornelia Marks, Richard Pietraß, Zvonko Plepelic, André Schinkel, Bärbel Schulte
Drava Verlag, Klagenfurt 2015
170 Seiten, 17,80 Euro

Mehr zum Thema