Pleuger: "Weimarer Dreieck" wiederbeleben

Gunter Pleuger im Gespräch mit Heidrun Wimmersberg und Ernst Rommeney · 27.12.2008
Nach Einschätzung von Gunter Pleuger sollten Frankreich, Deutschland und Polen gemeinsam der Europäischen Union neue Impulse geben. Es sei daher sinnvoll, den Dialog der Außenminister im Rahmen der Initiative "Weimarer Dreieck" wiederzubeleben, sagte der Präsident der Europa-Universität Viadrina und frühere Diplomat. Zugleich sprach sich Pleuger gegen eine NATO-Osterweiterung und eine Stationierung des amerikanischen Raketenschirms in Polen und Tschechien aus.
Deutschlandradio Kultur: Was machen die Deutschen falsch im Umgang mit Polen?

Gunter Pleuger: Ich glaube, die Deutschen und die Polen sind in den letzten Jahren eigentlich recht gut zusammengekommen. Ich glaube nicht, dass im Umgang der beiden Völker so viel falsch gemacht wird, sondern beide Völker haben unterschiedliche historische Erfahrungen, eine unterschiedliche Erinnerungskultur und natürlich auch unterschiedliche politische Interessen. Die müssen in Übereinstimmung gebracht werden. Das ist die Aufgabe der Politik und der Diplomatie. Wenn es diese Unterschiede nicht gäbe, wären wir arbeitslos.

Deutschlandradio Kultur: Sie haben eben gesagt, die beiden Völker sind inzwischen schon ganz gut zusammengekommen. Wodurch ist das denn passiert?

Gunter Pleuger: Es ist natürlich durch einen langen Prozess der Aussöhnung zwischen Deutschland und Polen passiert. Es hat viele Organisationen, auch der Zivilgesellschaft, gegeben, die diesen Prozess befördert haben.

Ich war gerade in Warschau, wo der Deutsch-Polnische Preis an die Stiftung Kreisau und an die Aktion Sühnezeichen verliehen worden ist. Beides sind Organisationen, die zur Versöhnung zwischen Polen und Deutschen beigetragen haben.

In der letzten Zeit haben sich aber auch die politischen Beziehungen verdichtet, und zwar in der Zeit, als Polen den Beitritt zur Europäischen Union verhandelte. 1991 haben wir da das so genannte Weimarer Dreieck gegründet, das heißt, der damalige Außenminister Genscher. Dieses Weimarer Dreieck, bestehend aus den Außenministern von Deutschland, Frankreich und Polen, ist gegründet worden, um Polen bei den Verhandlungen zum Beitritt in die Europäische Union zu helfen. Das hat sehr gut geklappt.

Als klar war, dass dieser Vertrag zustande kommen würde, ist das Weimarer Dreieck wieder ein wenig eingeschlafen und später erst durch die drei Außenminister Fischer, Geremek und Védrine zu einem politischen Forum wiederbelebt worden. In diesem Forum hatten die drei Staaten Gelegenheit, ihre Meinungen auszutauschen, gemeinsame Politiken zu koordinieren und eine enge Zusammenarbeit zu praktizieren. Das war eine sehr gute Zeit. Ich glaube, dass damals eine gute Grundlage für ein sehr enges Zusammenwirken zwischen Polen und Deutschland gelegt worden ist. Das ging gelegentlich sogar soweit, dass Védrine, der französische Außenminister, bei einem Treffen in Paris mal nach einer sehr intensiven bilateralen Debatte zwischen Herrn Fischer und Herrn Geremek sagte: "Joschka, das Weimarer Dreieck besteht nicht nur aus Deutschland und Polen." Das war ein Ausdruck dafür, wie eng sich in diesem Dreieck die deutsch-polnischen Beziehungen entwickelt hatten.

Deutschlandradio Kultur: Nun sprechen Sie aus Ihrer aktiven Zeit. Sie waren politischer Direktor im Auswärtigen Amt. Sie waren Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Und Sie haben dort auch die Osterweiterung mit verhandelt. Die Polen – wie Sie es ja auch sagen – sind voll des Lobes über diese Zeit der Aufnahme Polens in die Europäische Union. Aber danach ist die Stimmung deutlich schlechter geworden. Warum?

Gunter Pleuger: Das ist eine Phase gewesen, in der die Beziehungen schwierig waren, nicht zuletzt deshalb, weil es in Polen auch eine Regierung gab, die andere außenpolitische und auch deutschlandpolitische Prioritäten gesetzt hat. Aber ich glaube, mit der Regierung Tusk ist wieder eine Wende zur engeren Zusammenarbeit eingetreten.

Deutschlandradio Kultur: Wir sprechen ja jetzt über die Beziehungen auf hoher politischer Ebene. Wenn wir das mal runterbrechen auf die Bevölkerung: wir Deutschen bekommen ja öfter auch von Polen zu hören, dass wir uns zu wenig für Polen und die Geschichte dort interessieren.

Gunter Pleuger: Ich glaube, es ist in solchen Aussagen immer recht schwierig zu sagen, "die" Deutschen oder "die" Polen. Natürlich interessieren sich die Deutschen in Brandenburg mehr für das, was in Polen vorgeht, als die Bayern oder die Saarländer, die einfach geografisch anders ausgerichtet sind. Aber eine der ersten und für mich sehr positiven Erfahrungen hier in Frankfurt war die Begegnung mit der ja sehr international ausgerichteten Studentenschaft der Viadrina. Die Erfahrung ist, dass diese Studentenschaft fröhlich, kreativ und initiativ ist. Das äußert sich unter anderem auch darin, dass die Studentenschaft hier über 40 studentische Initiativen hat, die sie betreibt, ohne jede Unterstützung, ohne jede Anregung von Staat, Gesellschaft oder Universität. Das finde ich sehr positiv.

Deutschlandradio Kultur: Sie kommen aus dem Berliner Milieu. Sind denn die Berliner, die Abgeordneten im Auswärtigen Ausschuss, vielleicht auch die Diplomaten, vielleicht die Parteien auch wirklich im Gespräch mit ihrem Warschauer Pendant?

Gunter Pleuger: Ja, sicher. Dieses Gespräch findet natürlich nicht nur in Berlin auf bilateraler Ebene statt, wo Polen einen besonders aktiven und sehr angesehenen Botschafter hat, sondern auch im multilateralen Rahmen. Polen hat vor Kurzem eine große internationale Umweltkonferenz ausgerichtet. Auf solchen Konferenzen treffen sich natürlich auch Deutsche und Polen. Dort finden bilaterale und multilaterale Verhandlungen statt, die dazu führen, dass sich Deutschland und Polen auf bestimmten Politikgebieten enger abstimmen.

Zum anderen treffen sich natürlich der polnische und der deutsche Außenminister regelmäßig in kurzen Abständen in Brüssel im Rat. Bei der Preisverleihung neulich in Warschau hatte Außenminister Steinmeier seinem Kollegen Sikorski öffentlich gesagt, in der letzten Zeit hätten sie sich eigentlich öfter miteinander getroffen, als mit ihren Ehefrauen. Ich glaube, das ist ein gutes Indiz dafür, wie eng und wie intensiv die bilateralen Beziehungen sind.

Ich habe seit Beginn meiner Tätigkeit hier immer darauf hingewiesen, dass ich glaube, dass wir auch an dieser Universität in Lehre und Forschung darauf hinwirken müssen, dass das Weimarer Dreieck wiederbelebt wird. Warum? Der deutsch-französische Motor war gut und wirksam in der Gemeinschaft der 12 und der 15. Aber es hat sich gezeigt, dass in einer Europäischen Union der 27 dieser Motor einen zusätzlichen Zylinder braucht, er muss stärker werden. Da ist es nur natürlich, dass man an Polen denkt, denn Polen ist der größte und wichtigste Staat der neuen Beitrittsländer zur EU aus Mitteleuropa.

Wir müssen daran arbeiten, dass wir das Weimarer Dreieck zu einem Forum gegenseitiger politischer Koordination ausbauen, um zu einer gemeinsamen Position von Deutschland, Frankreich und Polen zu kommen. Eine gemeinsame kohärente Politik für Europa zu entwickeln geht nur, wenn alle Staaten bereit sind, über den Tellerrand ihrer unmittelbaren nationalen Interessen hinauszusehen. Dazu braucht es zwei Dinge: Einen ständigen intensiven Dialog und einen Kern von großen Staaten, die die Dinge vorantreiben. Das könnte meines Erachtens im Idealfall das Weimarer Dreieck aus Frankreich, Deutschland und Polen sein.

Deutschlandradio Kultur: Das wäre dann sozusagen der Vorreiter, wenn ich Sie jetzt richtig verstanden habe?

Gunter Pleuger: Ja, der Vorreiter, selbstverständlich. Wir haben in der Vergangenheit im französisch-deutschem Duo natürlich immer vermieden – und zwar ganz bewusst vermieden -, dass der Eindruck entstehen könnte, hier solle ein Direktorat der Europäischen Union gebildet werden. Das darf auf keinem Fall entstehen, auch nicht durch das Weimarer Dreieck, denn dann hätten wir sofort alle übrigen Staaten gegen uns, insbesondere die kleineren Staaten. Es ist wichtig im europäischen Konzert, allen die gleiche Rechte zu geben und allen auch das gleiche Gehör zu schenken.

Aber wenn ein Kern von Staaten eine gemeinsame Politik entwickelt hat und die nach Brüssel trägt, dann bewegt sich was. Diese Aufgabe könnte dieses Dreigestirn entwickeln.

Deutschlandradio Kultur: Dann spielen wir das doch mal durch: Franzosen und Deutsche machen bereits gemeinsame Politik und gehen in vielen Fragen voran. Nun nehmen wir die Polen hinzu, also würde sich doch anbieten zu sagen, wir brauchen eine Russland-Strategie. Wir gehen nach Warschau und sagen: Liebe Polen, schreibt uns auf, wie wir für die gesamte EU eine gemeinsame Strategie entwerfen sollen. Das funktioniert doch nicht.

Gunter Pleuger: Noch nicht. Sie sprechen da ein höchst sensitives Thema an, was man auch erst versteht, wenn man öfter mal in Polen und in den baltischen Staaten gewesen ist. Ich habe drei Reisen gemacht, bevor ich hier angetreten bin. In vielen Gesprächen mit Politikern und Diplomaten ist mir dort klar geworden, wie traumatisch in diesen Ländern das Erlebnis der sowjetischen Besetzung war. Das ist so traumatisch, dass es schwierig ist, über dieses Thema rational zu reden. Deswegen ist es ja auch in der Vergangenheit schwierig gewesen, eine gemeinsame europäische Position für die Verhandlungen zu entwickeln, die jetzt wieder zwischen der Union und Russland über eine strategische Beziehung stattfinden. Aber diese strategische Beziehung ist absolut notwendig. Russland wird immer als ein großer und mächtiger europäischer Staat da sein. Ganz gleich, wer dort regiert, wir brauchen auf Dauer eine stabile, verlässliche Beziehung mit Russland, die Russland in das Konzert der europäischen Staaten einbezieht, und zwar in einer Weise, dass ein Ausbruch aus dieser Beziehung größeren Schaden anrichtet, als ein Kompromiss innerhalb dieser Beziehung.

Deutschlandradio Kultur: Sehen Sie denn in Bezug auf Russland schon eine Trendwende bei polnischen Politikern?

Gunter Pleuger: Ich glaube, dass dies ein Prozess ist, der durchaus noch seine Zeit und viele Gespräche braucht. Man muss sicherlich in Gesprächen mit Polen immer wieder betonen, dass kein Mitgliedsstaat der Europäischen Union allein mit Russland auf gleicher Augenhöhe verhandeln kann. Unsere Sicherheit können wir auch nicht allein garantieren oder in Verbindung mit einer bilateralen Vereinbarung mit den USA zum Beispiel.

Die Sicherheit und die Verhandlung auf gleicher Augenhöhe erreichen wir nur über die Europäische Union. Deshalb, glaube ich, müssen wir alle Mitgliedsstaaten, auch die neuen Mitgliedsstaaten, davon überzeugen, dass die dauerhafte Stabilisierung des europäischen Raumes nur in Zusammenarbeit zwischen Europäischer Union und Russland möglich ist.

Deutschlandradio Kultur: Aber wir kehren doch irgendwie an einen alten Punkt zurück. Russland erscheint uns mit brachialen außenpolitischen Methoden - Gaspreispolitik oder das Verhältnis gegenüber Georgien. Russland hat uns viele Abrüstungsabkommen zur Disposition gestellt, sie müssen neu verhandelt werden oder es müssen Nachfolgeabkommen kommen. Russland will da aufweichen. Es ist also sehr schwierig geworden. Auch wir als Deutsche sind international in der Kritik, weil wir nicht hart genug sind. Das hatten wir alles schon mal. Sie waren 37 Jahre lang Diplomat, Sie werden das alles kennen. Aber dieses Feld, mit Russland umzugehen, ist schwieriger geworden.

Gunter Pleuger: Das muss man etwas objektiver sehen. Außenminister Genscher hat mal den schönen Satz geprägt: "Wenn Sie erfolgreich verhandeln wollen, dann müssen Sie sich erst mal in die Schuhe des Gegenübers versetzen". Denn nur wenn man die Probleme und die Politik und vielleicht auch Ängste und emotionale Dinge der anderen Seite kennt, kann man sinnvoll ausloten, wo die roten Linien, wo sind die Kompromissmöglichkeiten sind.

In den Feldern, die Sie genannt haben, Gaspreise und Ölpreise: wir haben in den 90er Jahren nach dem Ende der Sowjetunion aus dem Westen heraus den Russen ziemlich hochnäsig gesagt: Jetzt müsst ihr mal Marktwirtschaft machen und so müsst ihr es tun. Jetzt machen die Russen das und verkaufen eben ihr Gas und ihr Öl nicht mehr zu Präferenzpreisen. Das ist eigentlich marktwirtschaftlich völlig in Ordnung. Dass die davon Betroffenen das nicht schön finden, ist eine andere Sache. Aber das heißt nicht, dass die Russen eine schlechte Politik führen.

Georgien ist ein Fall, wo eine gewisse Dämonisierung Russlands stattgefunden hat. Denn dass in einem militärischen Konflikt zwischen Georgien und Russland letztlich dieses große mächtige Land obsiegen würde, müsste eigentlich jedem klar gewesen sein. Was der Georgien-Konflikt im Übrigen gezeigt hat, das sollte uns Europäern schon zu denken geben. Er hat gezeigt, dass in einem solchen Konflikt die USA letztlich nicht bereit sind, in einen militärischen Konflikt mit Russland zu kommen. Das gilt auch ganz generell. Das heißt, wir können uns nicht allein darauf verlassen, dass uns im transatlantischen Verhältnis die USA in jedem Fall zu Hilfe kommen. Wir müssen selber für unsere Sicherheit sorgen. Das können wir nur im Verbund der Europäischen Union und der NATO.

Deutschlandradio Kultur: Wie beurteilen Sie die Lage Russlands? Da hat sich ja in letzter Zeit - und jetzt ist Dimitri Medwedew an der Spitze - einiges getan. Glauben Sie, dass sich auch dort etwas im Bezug auf die EU verändern wird?

Gunter Pleuger: Ich glaube, dass Russland durchaus erkannt hat, dass eine gute und enge Beziehung zur Europäischen Union für Russland lebenswichtig ist, schon wegen des Technologie-Transfers, der von der EU ausgeht, von den Handelsbeziehungen, die für Russland wichtiger sind als die Handelsbeziehungen Russlands zu den Vereinigten Staaten. Ich glaube, man muss auch gewisses Verständnis für die russischen Positionen haben, auch wenn man diese Positionen nicht teilt. Sie haben Probleme der Abrüstung angesprochen. Die Russen haben in vielen Abrüstungsbereichen Dinge ratifiziert, die die USA und die NATO-Mitgliedsstaaten noch nicht ratifiziert haben, z.B. die Veränderungen zum KSE-Vertrag. Deswegen ist es keineswegs so, dass eine neue, aggressive russische Politik Abrüstungswege verschüttet hätte. Das ist nicht so. Beide Seiten müssen, das hat der neue Präsident Obama ja schon angekündigt, gerade auf dem Gebiet der Abrüstung Neuanfänge suchen.

Wenn Sie sich anschauen, was der russische Präsident vorgeschlagen hat, nämlich Verhandlungen über ein europäisches Sicherheitssystem, was ist daran schlecht? Warum sollten wir darüber nicht reden? Wir haben in den schlimmsten Zeiten des Kalten Krieges Helsinki beschlossen, den KSZE-Prozess, und das hat funktioniert. Man hat trotz des Streits während des Ost-West-Konflikts Felder identifiziert, in denen Zusammenarbeit möglich war: Zusammenarbeit in der Wirtschaft, Zusammenarbeit bei den Menschenrechten, Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik. Es wäre doch merkwürdig, wenn man sich jetzt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts nicht zusammensetzen würde, um über ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem zu sprechen, in dem langfristig Wohlstand, Frieden und Stabilität in Europa gesichert werden könnten. Was der Ausgang dieser Verhandlungen ist, kann kein Mensch bisher voraussagen, aber dass man darüber spricht, halte ich für selbstverständlich und im Interesse beider Seiten.

Deutschlandradio Kultur: Wir haben doch die OSZE. Was ist an ihr schlecht? Wir wissen doch, dass die Russen gerade diese Organisation wegen der Wahlbeobachtung und wegen der Menschenrechtsfragen kritisieren. Wenn wir in dem Punkt als Westeuropäer, als Europäische Union zurückgingen, dann würden wir vor unseren eigenen Idealen ja nicht gerade gut dastehen. Also, wozu wollen wir die OSZE zur Disposition stellen, um irgendetwas Größeres, Anderes, Besseres zu bekommen?

Gunter Pleuger: Verhandlungen über ein europäisches Sicherheitssystem müssen nicht notwendig dazu führen, dass wir die OSZE zur Disposition stellen. Es könnte durchaus sein, dass neue Vorschläge - als Ergebnisse von Verhandlungen - in die OSZE integriert werden, das ist ja nicht ausgeschlossen. Aber ich glaube, es ist niemals eine gute Politik, Verhandlungen und Dialog zu verweigern, deswegen wäre es sehr nützlich, wenn wir auf die Vorschläge von Medwedew eingingen und zunächst einmal miteinander reden. Wenn es keine Übereinstimmung gibt, dann stehen wir nicht schlechter da als vorher. Und wenn neue Ideen entwickelt werden, die Europa voranbringen, umso besser.

Deutschlandradio Kultur: Dann müsste man aber auch die Vorhaben - Raketenabwehrschirm in Polen und Tschechien und Kurzstreckenraketen in Kaliningrad - ad acta legen.

Gunter Pleuger: Das ist ein nicht sehr rühmliches Kapitel europäischer, transatlantischer und russischer Politik. Aber man muss natürlich eins sehen: Wenn Sie sich die Entwicklung seit dem Ende des Kalten Krieges mal ansehen, bei den 2+4-Verhandlungen über die deutsche Einigung hat man den Russen versprochen, die NATO nicht nach Osten auszudehnen. Die NATO ist aber dann nach Osten ausgedehnt worden und die Russen haben dafür den NATO-Russland-Rat bekommen. Das heißt, die Russen haben sich eigentlich ganz vernünftig verhalten. Aber wenn jetzt natürlich gepusht wird, zwei Staaten wie die Ukraine und Georgien in die NATO aufzunehmen, wobei überhaupt nicht klar ist, was die zu diesem Bündnis beitragen können, und die Russen dann das Gefühl haben, sie sollen eingekreist werden, das mag man ja im Westen nicht für real halten, aber auch Befürchtungen, die nicht realistisch sind, sind politische Realitäten, auf die wir Rücksicht nehmen müssen.

Deshalb glaube ich, dass man auch Verständnis dafür haben muss, dass die Russen dieses System, das ja angeblich gegen den Iran gerichtet ist, möglicherweise auch als gegen sich gerichtet empfinden. Darüber muss man mit den Russen reden.

Im Übrigen ist es natürlich so: Das kollektive Gedächtnis ist ja immer kurz. Die Fragen, die mit der Errichtung dieses Raketenabwehrsystems zusammenhängen, haben wir vor über 20 Jahren schon mal mit der Regierung Reagan im transatlantischen Verhältnis diskutiert. Da ging es um die Star Wars. Man hat dieses Projekt damals aufgegeben, nicht nur, weil es technisch noch nicht möglich oder noch nicht ausgereift war, sondern aus einem ganz anderen Grunde. Darüber wird zurzeit überhaupt nicht diskutiert. Wenn nämlich durch einen Raketenabwehrschirm ein Land oder Teile des Bündnisses eine unterschiedliche Sicherheit bekommen, dann erodiert das die Grundlagen des Bündnisses. Denn das Bündnis beruht auf der gemeinsamen Überzeugung gleicher Sicherheit.

Wenn sich jetzt ein Teil des Bündnisses, ein Staat oder mehrere Staaten, durch ein Raketenabwehrsystem eine größere Sicherheit verschaffen, das sie unangreifbar macht, dann hat das zwei Folgen: Erstens unterminiert das die Glaubwürdigkeit der Aussage, wenn ihr anderen angegriffen werdet, werden wir euch helfen. Warum sollte das ein Staat tun, der selber unangreifbar ist? Die zweite Folge ist, dass derjenige, der unangreifbar ist, nicht mehr kalkulierbar ist, denn der kann politisch alles machen, weil er keine Risiken mehr eingeht.

Diese beiden Dinge haben dazu geführt, dass man damals vom Star-War-Konzept abgekommen ist. Dasselbe Problem haben wir jetzt mit dieser Frage des Raketensystems in Polen und in Tschechien. Letztlich, muss ich sagen, finde ich es einen ziemlichen Skandal, dass zwei Mitglieder der EU und der NATO in einer Frage, die alle Mitglieder beider Bündnisse angeht, bilateral und unilateral vorgehen und dadurch Fakten schaffen, die die Sicherheit aller Beteiligten beeinträchtigen. Das gehört eigentlich nicht zum Grundverständnis der Europäischen Union und auch nicht der NATO. Das hätte man besprechen müssen im NATO-Rat und im Ministerrat der Europäischen Union.

Deutschlandradio Kultur: Also doch ganz undiplomatisch eine massive Kritik an Warschau und an Prag?

Gunter Pleuger: Ja, aber nicht nur an Warschau und an Prag. Ich meine, auch das Bündnis selbst hätte darauf reagieren müssen, auch gegenüber den USA. Die USA sind schließlich auch Mitglied in der NATO, und zwar das wichtigste. Man hätte allen dreien sagen müssen: Das sind Themen, die wir im Bündnis beraten müssen. Man hätten den beiden europäischen Mitgliedern der EU sagen müssen: Das ist eine Sache, die wir im Rahmen der europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik in Brüssel beraten müssen.

Deutschlandradio Kultur: Aber ist da nicht ein ganz gefährliches Nebenmoment dabei, nämlich dass die Europäer immer das Gefühl haben, sie werden gegeneinander ausgespielt - mal von den Administrationen in Washington, von den Amerikanern, mal von den Russen? Ist das ein Minderwertigkeitskomplex oder eine echte Gefahr, dass wir ein Junior-Partner sind, der immer hin- und hergeschubst wird?

Gunter Pleuger: Wenn das so wäre, ist das unsere eigene Schuld. Es ist nicht illegitim von anderen Mächten, zu versuchen eine Assoziation wie die Europäische Union oder die NATO auseinanderzudividieren. Das ist ein alter Grundsatz von Machtpolitik: divide et impera. Das ist nicht illegitim. Wer sich das gefallen lässt, wer darauf hereinfällt, ist selber schuld. Deswegen kann man den USA und Russland nicht vorwerfen, dass sie versuchen, wenn sie das für einfacher halten, um ihre nationalen Interessen durchzusetzen, mit einzelnen Mitgliedsstaaten zu verhandeln. Aber wenn die sich das gefallen lassen, das ist ihr eigener Fehler.

Deutschlandradio Kultur: Ende Januar wird es einen neuen US-Präsidenten geben, Barack Obama. Heißt es auch, dass wir vielleicht in dem großen Verhältnis zwischen Ost und West vielleicht eine andere Führungsmacht sehen werden, eine USA, die sich anders präsentiert, die sich auch der Europäischen Union gegenüber anders verhält als bisher?

Gunter Pleuger: Ich glaube ganz bestimmt, dass sich mit der Regierung Barack Obama das transatlantische Verhältnis und die internationalen Beziehungen verändern werden. Ich glaube im Übrigen, dass die Regierung Obama bereit wäre, insbesondere auf die Europäer zu hören, wenn die Europäer in der Lage wären, eine gemeinsame Politik zu entwickeln, die sie Obama präsentieren.

Ich bedauere sehr, dass unsere Diskussion hier in Europa immer darum geht, welche Forderungen die neue Regierung Obama an uns stellen wird, anstatt zu sagen: Die Regierung Obama ist neu, die hat offene Ohren. Wir treten jetzt an Obama heran und sagen, lieber Herr Obama, wir stellen uns die Entwicklung des transatlantischen Verhältnisses, die Entwicklung bei den großen, globalen Frage, die nur in globalem Rahmen in multilateralen Organisationen gelöst werden können, so und so und so vor. Da liegt eine große Chance, insbesondere für Europa, wirklich weltpolitisch mitzugestalten. Und daran hapert es noch.

Aber davon abgesehen glaube ich, dass Obama, wenn man die Aussagen analysiert, die er auch im Wahlkampf gemacht hat, sehr viel weniger unilateral handeln wird als die Vorgängerregierung. Wobei man natürlich erkennen muss, eine so große Macht wie die USA hat sich immer, egal, wer gerade regiert hat, das Recht vorbehalten, in dem Falle, wo es das als notwendig sah, im Interesse seiner nationalen Interessen auch unilateral zu handeln. Das haben die USA immer gemacht. Aber es ist eine Frage des Grades.

Ich glaube, wir sind jetzt in einer Zeit, wo auch bei den Amerikanern die Einsicht wächst, dass man globale Probleme nicht mehr allein lösen kann, sei man auch die stärkste Macht der Welt. Die zweite Einsicht, die gewachsen ist, ist, dass man politische Probleme nicht ausschließlich mit militärischen Mitteln lösen kann. Afghanistan und Irak sind dabei herausragende Beispiele, aber das gilt auch für die vielen Konflikte, die wir in Afrika haben. Deshalb wird es wahrscheinlich mit dieser Regierung mehr Konsultationen geben. Es wird mehr multilaterale Anstrengungen zur Lösung der globalen Probleme geben. Denn bestimmte Dinge, wie den Klimaschutz, die Bekämpfung von Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, die Eindämmung übertragbarer Krankheiten, wie Aids und Tuberkulose, kann kein einzelner Staat mehr machen. Da muss die gesamte Staatengemeinschaft mitwirken. Deswegen glaube ich, dass wir mit Obama in eine neue Phase multilateraler Politik eintreten werden, auch im transatlantischen Verhältnis.

Deutschlandradio Kultur: Herr Pleuger, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.