Platzvergabe beim NSU-Prozess ist "beschämend"

Moderation: Ute Welty · 28.03.2013
Die Juristin und Autorin Seyran Ates kritisiert das Münchner Oberlandesgericht für dessen starre Platzvergabe an Journalisten. Spätestens am zweiten Tag hätte es eine Lösung für die türkischen Korrespondenten geben müssen, sagt sie. Dennoch sei Deutschlands Umgang mit seiner Vergangenheit lobenswert.
Ute Welty: Warum Deutschland lieben? Die einen mögen den Nordseestrand, die anderen die bayerischen Berge, oder weil es so viele Brot- und Wurstsorten hier gibt. Das jedenfalls fiel Altbundespräsident Karl Carstens auf einer seiner zahlreichen Wanderungen auf. Aber warum Deutschland lieben, wenn hier Landsleute überfallen und getötet werden, wenn man nur selbst knapp einem Anschlag entgeht? Darüber hat die Rechtsanwältin Seyran Ates ein Buch geschrieben, "Wahlheimat" heißt es und erschienen ist es jetzt gerade mitten in der sehr emotionalen Debatte im Vorfeld des Prozesses gegen den rechten Terror des Nationalsozialistischen Untergrunds. Guten Morgen, Frau Ates!

Seyran Ates: Guten Morgen, Frau Welty!

Welty: Jeden Tag eine neue Schlagzeile, ein neuer Aufreger im Zusammenhang mit dem Prozess und vor allem im Zusammenhang mit der Platzvergabe für die Berichterstatter. Mit welchem Eindruck verfolgen Sie das alles?

Ates: Von Tag zu Tag werde ich immer ärgerlicher. Ich hätte gedacht, dass man am Tag zwei dann doch eine Lösung findet, damit endlich all diese Vorurteile und all diese Emotionen da rausgenommen werden. Also, Richter sind keine Geiseln von Gesetzen! Ich hätte gedacht – obwohl ich keine Freundin von Richterschelte bin –, dass sie da doch flexibler sind und eine Lösung finden!

Welty: Wird Ihr Herz schwer angesichts der Verwerfungen? Hätten die zehn getöteten Menschen nicht ein würdevolleres Verfahren verdient?

Ates: Sie hätten ein sehr, sehr viel würdevolleres Verfahren verdient und das macht mich wirklich, tatsächlich, obwohl ich dieses Buch geschrieben habe, noch mal wehmütig, zu sehen, dass noch sehr viel Unreines hier auch in Deutschland ist, obwohl ich ja so überzeugt bin von diesem Land, das seine Vergangenheit so gut bewältigt hat. Und das ist hier ein Wermutstropfen darauf. Das beschämt.

Welty: Warum?

Ates: Also, das … Ja, weil ich der Ansicht bin, dass Deutschland durchaus mit dem Thema Rassismus und Vergangenheitsbewältigung vorbildlich umgegangen ist bisher. Und das …

Welty: Aber warum benutzen Sie dann das Wort unrein?

Ates: Wie meinen Sie das jetzt?

Welty: Sie haben eben gesagt, Deutschland habe noch so viel Unreines.

Ates: Oh, nein, nein, da habe ich gerade missverständlich ausgedrückt! Nein, das habe ich damit nicht meinen wollen.

Welty: Die sehr erfahrene Gerichtsreporterin Gisela Friedrichsen sagte im Interview mit Deutschlandradio Kultur, sie habe selten ein so transparentes Verfahren erlebt wie jetzt das beim Oberlandesgericht in München.

Ates: Ja, also, es ist ja bisher sehr, sehr viel an die Öffentlichkeit natürlich gedrungen, das ist klar. Aber wir reden ja darüber, was davor passiert ist, dass das Ganze überhaupt geschehen konnte. Und wir reden hier über den Verfassungsschutz. Und das Verfahren an sich ist wieder vorbildlich, selbstverständlich. Und wenn jetzt die Situation ist, dass die türkische Presse nicht dabei sein kann, obwohl es so viele türkische Opfer gab, dann ist das beschämend und das geht nicht. Und das hätte meiner Ansicht nach an Tag zwei schon entschieden werden können.

Man muss sich nicht geiselhaft an Gesetze halten und sagen, an Regelungen, so war das bisher, es hat sich ja auch niemand bisher darüber aufgeregt, warum jetzt in diesem Verfahren? – Ja, natürlich, weil in diesem Verfahren eine besondere Situation ist. Und so habe ich eigentlich Deutschland auch kennengelernt, dass man durchaus dann auch mal Fünfe gerade sein lassen kann.

Welty: Stichwort Verfassungsschutz, Stichwort Verfassung: Die Verfassung ist für Sie der wesentliche Grund, dass Sie Deutschland zu Ihrer Wahlheimat gemacht haben. Verfassung und Wahlheimat, das klingt, um ehrlich zu sein, in meinen Ohren nach Widerspruch, nach Widerspruch zwischen dem Juristisch-Rationalen und dem Emotionalen.

Ates: Das ist kein Widerspruch, wenn man es dann insgesamt liest, weil ich der Ansicht bin, dass man auf der einen Seite emotional eine Bindung haben kann zu einem Land – und das muss nicht ein Land sein, man kann mehrere Heimaten haben –, das ist das eine; und am Ende habe ich mich ja auch für eine Staatsangehörigkeit entschieden und gesagt, ich entscheide mich für das politische System, das in Deutschland herrscht, und die Verfassung, welches mir mehr Freiheit bietet und demokratische Rechte als das andere Land.

Aber ich bin emotional verbunden mit beidem als Heimat, weil es auch meine Identität ausmacht und meine Kultur. Wir müssen über all diese Begrifflichkeiten wie Heimat und Identität und Kultur meiner Ansicht nach viel offener und differenzierter nachdenken und diese Terminologien ändern sich auch in unserer Zeit, in der globalisierten Welt.

Welty: Wie war das dann, als Sie dann endgültig Ihren türkischen Pass zurückgegeben haben?

Ates: Ich habe im Vorfeld angefangen, darüber so intensiv nachzudenken, ob jetzt da irgendetwas in mir kaputtgeht oder ob ich da was tatsächlich abgebe und ich zerrissen sein werde. Nein, am Ende war das ein kleiner Akt, der mir gezeigt hat, es geht nur um dieses Papier, aber es hat nicht mir meine Heimat Türkei genommen und mir meine Heimat Deutschland noch nicht so ganz gegeben, weil, Deutschland ist halt meine Heimat für mich, aber von außen betrachtet sehen mich sehr viele Menschen weiterhin nur als Türkin.

Welty: Haben Sie den Schritt zwischenzeitlich auch mal bereut, gerade im Zusammenhang mit den Ermittlungen zum Serienmord des NSU und den unglaublichen Pannen, die dann bekannt wurden?

Ates: Nein, ich habe es nicht bereut, weil ich selbst ja ein Attentat überlebt habe, wonach dann ein Prozess stattfand und dort so viele Ermittlungsfehler gemacht wurden, dass der Täter nicht gefasst wurde. Das heißt, ich habe diese ganze Prozedur, wo auf dem rechten Auge Behörden blind sind, aber damals auf dem rechten Auge der türkischen Nationalisten, selbst persönlich durchgemacht, dass mein Vater beschuldigt wurde, mir versucht wurde, eingeredet wurde, es sei eine Beziehungstat aus meiner Familie.

Ich habe das vor 28 Jahren selbst durchgemacht und deshalb habe ich den Schritt am Ende nicht bereut. Das war für mich keine neue Auseinandersetzung, auch das, was jetzt im NSU-Prozess passiert. Ich weiß, dass in Deutschland solche Strukturen leider Gottes noch da sind. Aber dennoch sage ich, sogar dieses Land kann man lieben, so wie mir ja erlaubt wird, die Türkei zu lieben oder anderen Ethnien, ihr Land zu lieben. Man kann auch Türkei lieben … Deutschland lieben, weil im Gegensatz zu anderen Ländern mit dem Thema Rassismus und rechte Strukturen in einem Land dann am Ende doch vorbildlich umgegangen wird. Und wenn ich vorhin am Anfang von unrein gesprochen habe, dann meinte ich: Bei diesen Themen sind so viele Sachen noch nicht ins Reine …

Also, es ist alles, es ist vieles schon ans Tageslicht gekommen, aber ich meine, dass da noch sehr viel dahintersteckt. Ich weiß nicht, wieso so etwas existieren konnte, wieso so etwas tatsächlich passieren konnte und ob man da leider Gottes vielleicht noch weiter nach oben geht.

Welty: Seyran Ates über ihre Wahlheimat Deutschland und den Nationalsozialistischen Untergrund. Ich danke für sehr für dieses Gespräch!

Ates: Danke auch, Frau Welty!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.