Plattform mit sozialem Anschlusszwang

Moderation: Dieter Kassel · 24.06.2008
Für den Medienwissenschaftler Norbert Bolz ist der Erfolg der Internetplattform "Second Life" vor allem auf die Möglichkeiten für die Nutzer zurückzuführen, selbst zum Produzenten zu werden. Allerdings habe die Aufregung um "Second Life" deutlich nachgelassen, weil andere Angebote mit ähnlicher Struktur auf den Markt gegangen seien. Es gebe eine Art Anschlusszwang, der von neuen sozialen Netzwerken und Plattformen ausgehe, sagte Bolz.
Dieter Kassel: Vor fünf Jahren ging "Second Life" online. Manche sind von der virtuellen Internetwelt begeistert, einige fühlen sich durch sie beunruhigt und nicht wenige lässt sie immer noch kalt, obwohl uns ständig gesagt wird, das muss man kennen. Norbert Bolz ist jemand, der schon Berufs wegen nicht ganz ohne Interesse an virtuellen Welten ist. Er ist Medienwissenschaftler und Professor an der technischen Universität in Berlin. Schönen guten Tag, Herr Bolz!

Norbert Bolz: Guten Tag!

Kassel: Inzwischen ist es so, dass man konträre Meinungen hört zur Zukunft von "Second Life". Die einen sagen, es ginge der virtuellen Welt besser als je zuvor und verweisen auf inzwischen 14 Millionen angemeldete Nutzer. Und die anderen sagen, "Second Life" habe seine besten Tage schon hinter sich. Was ist denn richtig?

Bolz: Ja, es ist sicher richtig, dass in der extrem schnelllebigen Internetzeit "Second Life" schon ein gewohntes Bild ist, ein gewohntes Angebot und, wie soll man sagen, die Aufregung schon ein bisschen verebbt ist. Aber ich denke, es ist und war doch ein durchschlagender Erfolg und ein vollkommen neues Feature in der Internetwelt. Und ich denke, es ist auch Vorbild geworden für sehr viele ähnliche Angebote im Internet mittlerweile. Angebote, die ja alle die gleiche Struktur haben, nämlich dass die Nutzer, die User selber Produzenten werden, dass die Konsumenten selber zu Produzenten werden. Und ob das nun "Second Life" heißt oder andere Namen hat, ist fast gleichgültig.

Kassel: Nun ist ja im Internet immer eine der großen Fragen, wie kann man damit Geld verdienen. Riesengroße Firmen haben Filialen eröffnet in der virtuellen Welt, manche davon gibt es immer noch, es werden auch neue eröffnet. Auf der anderen Seite, einige große Anbieter wie die Deutsche Post AG haben ihre Second-Life-Filialen wieder geschlossen. Hat dieses Scheitern auch so ein bisschen gezeigt, dass ich die User, sei es bei "Second Life", sei es woanders, das Zepter nicht so leicht aus der Hand nehmen lassen?

Bolz: Da haben Sie recht. Ich denke bei vielen, die da gescheitert sind, ist es auch so, dass sie das Ethos, den Geist, das Internet gar nicht verstanden haben und dass sie gar nicht begriffen haben, dass tatsächlich die Nutzer zuerst kommen und dass es deren Welt ist und dass es nicht primär die Welt des Kommerzes und der Anbieter ist. Man muss sehr viel intelligenter heute sein, wenn man Geschäfte machen will in der Internetwelt als auf den klassischen Märkten. Und diejenigen, die das nicht begriffen haben, sondern die einfach nur glaubten, hier haben wir eine neue Schiene des schnellen Profits, die sind hier sicher gescheitert.

Kassel: Wir ziehen ein vorläufiges Fazit aus fünf Jahren "Second Life", die virtuelle Plattform ist nämlich schon so alt. In Deutschland ist sie natürlich viel später erst richtig bekannt geworden. Aber in der Tat wurde sie in den USA vor fünf Jahren ins Netz gestellt. Herr Bolz, Sie haben ja schon gesagt, das große, wilde Berichten darüber, das hat ein bisschen nachgelassen. Darin liegt ja auch eine Chance. Lassen Sie uns ganz in Ruhe mal einigen der Kritikpunkte nachgehen, die sehr laut diskutiert worden sind im vergangenen Jahr zum Beispiel. Die Frage, ist jemand, der zu viel in "Second Life" unterwegs ist, jemand, der im ersten Leben, im realen Leben nicht mehr zurechtkommt, gibt es eine Gefahr der Bewegung in dieser Welt? Was kann man da nach fünf Jahren sagen?

Bolz: Wie bei ähnlichen Befürchtungen auch, das ist grundlos, dieses Szenario. Natürlich gibt es immer extreme Existenzen, die auch ohne die neusten Medien sicher am Rande unserer Gesellschaft existieren würden und sich in irgendwelche Traumwelten verlieren würden. Aber das ist überhaupt nicht charakteristisch. Wir haben es hier mit einem neuen Medium, mit einer neuen Kommunikationsstruktur zu tun. Und die meisten Leute verstehen erstens sehr gut, Realität und Virtualität zu unterscheiden, und sie verstehen es vor allen Dingen immer besser, die Möglichkeiten der virtuellen Welt in ihr Alltagsleben selber einfließen zu lassen. Auch kontinuierliche Übergänge zu gestalten. Wahr bleibt allerdings, dass das reine Ausmaß an Kommunikation, an technischer Kommunikation enorm zugenommen hat. Das ist absolut richtig. Aber ich würde sagen, immer noch besser, fünf Stunden am Tag im Internet zu hocken, als fünf Stunden vor dem Fernseher.

Kassel: Die virtuelle Welt, auch die bei "Second Life" ist natürlich, was Gesetze angeht, nicht so eindeutig geregelt wie die reale. Es gab ja wilde Diskussionen über Kriminalität im "Second Life", natürlich Sexualkriminalität, Pädophile sind da unterwegs gewesen, wie irgendwie im Internet offenbar überall. Es gab andere Formen. Braucht man eine Art Gesetzgebung für "Second Life"?

Bolz: Ich glaube, wenn es so etwas wie eine Gesetzgebung gibt in derartigen Formaten, dann kann es immer nur die der Teilnehmer selber sein. Das muss über Selbstorganisation laufen, über soziale Filter, die die Beteiligten aufbauen, so wie das bei "Wikipedia" ja auch in einer großartigen Weise funktioniert. Von außen gesetzte Normen erbringen da, glaube ich, überhaupt nichts. Denn es ist ja gerade der Triumph dieser neuen Medien, dass die Nutzer, die Bürger, die Konsumenten selber gestalten und selber die Normen setzen. Das sollte man auch so belassen, ohne dass man bagatellisieren darf die Gefahr, wie soll man sagen, krimineller Nutzung. Aber das ist eben das Schicksal aller neuen Medien, dass die bösen Buben sie mindestens so gut beherrschen wie die guten.

Kassel: Die Benutzer von "Second Life" haben einen Teil der kommerziellen Angebote, darüber haben wir gesprochen, nicht so richtig angenommen. Aber bei den nichtkommerziellen scheint es doch zum Teil anders auszusehen. Es gibt immer mehr Universitäten, auch in Deutschland, die Vorlesungen anbieten zum Teil dort. Es klingt so lustig, nichts gegen die Leute in Niedersachsen, aber beispielsweise die Volkshochschule Goslar, die Kurse in "Second Life" anbietet, Schlagzeilen gemacht hat, die Möglichkeit als Alkoholiker in "Second Life" Hilfe zu bekommen und einen Entzug zu machen. Ist das alles nur eine Spielerei, ein Lockangebot, um zum Beispiel die Studenten dann doch wieder in die richtige Uni zu locken? Oder ist das eine funktionierende, selbstständige Welt?

Bolz: Wahrscheinlich gilt beides. Das ist eine Welt, die sehr gut funktionieren kann, besser als die sogenannten Fernuniversitäten klassischen Zuschnitts. Und dass das MIT ins "Second Life" eingestiegen ist, war natürlich eine ungeheuer starkes Signal. Aber trotzdem behält das, was Sie in Ihrer Frage angedeutet haben, ein tiefes Recht nämlich, dass das natürlich auch ein wunderbares Marketingtool ist. Wer hat bisher von Goslar irgendetwas gehört? Nun plötzlich ist es interessantes, faszinierendes Faktum und natürlich auch die Professoren vom MIT denken ja nicht im Traum daran, dass ihre ganze Lehrexistenz jetzt im "Second Life" aufgeht. Sondern man wird dann eben merken, dass es nichts Faszinierenderes gibt als bestimmte große Professoren auch mal live zu erleben. Eine ganz ähnliche Entwicklung, wie wir sie auch in der Popmusik haben, das große Geld wird mit Live-Konzerten heute gemacht, weil alles andere praktisch kostenlos zu haben ist. Und so wird man in Zukunft auch die Star-Professoren eben live erleben wollen, gerade weil man es gewohnt ist, dass die schlichten Informationsinhalte kostenlos über das Netz verteilt werden.

Kassel: Wollen wir nicht trotzdem die Kirche im Dorf lassen? Wenn man sich die Zahlen mal anguckt, selbst wenn man 14 Millionen angemeldete Nutzer ernst nimmt, das sind Zahlen vom Anbieter, das sind keine kontrollierten Werte, aber glauben wir das denen mal. Das kennen wir alle aus dem Internet. Wie oft haben wir uns alle schon mal irgendwo angemeldet und nach drei Tagen hatten wir das Passwort vergessen, weil das war sozusagen die Hitze des Moments und auf die Dauer gab es kein Interesse. Wenn man mal realistisch guckt, dann sind zu den ganz harten Zeiten zwischen 40.000, na ja, vielleicht mal 70.000 Leuten gleichzeitig in "Second Life" unterwegs weltweit. Muss man nicht dennoch zugeben, wenn einem manche Menschen einreden wollen, wer "nicht drin ist", der nimmt auch am Leben nicht mehr richtig teil, da ist doch ein bisschen übertrieben, oder?

Bolz: Ja, das ist natürlich vollkommener Unsinn. Was dahintersteckt, ist natürlich wiederum blankes Marketing. Aber man darf eins nicht vergessen: Es gibt insgesamt von den Medien des Internet und den Plattformen des Internets so eine Art sozialen Anschlusszwang. Wenn Sie sich zurückerinnern, wie das war, als die ersten E-Mail-Adressen sich verbreiteten, war das erst eine Kuriosität. Dann war es der Stolz derer, die es auf der Business-Card hatten. Und plötzlich war man ein Loser, jemand von gestern, wenn man keine E-Mail-Adresse hatte. Und dieser soziale Anschlusszwang, der geht, denke ich auch, von diesen sozialen Netzwerken und diesen neuen Plattformen aus. Irgendwann wird es tatsächlich dazugehören. Und ich glaube, bei den ganz Jungen in den Schulen ist es längst so, dass man, wenn nicht beim "Second Life" dann bei "studiVZ" oder sonst irgendwo ist. In irgendeiner dieser virtuellen Kommunikationswelten, die ergänzend zum Alltag hinzutreten, aber eben keineswegs verdrängen werden.

Kassel: Warten wir ab, ob wir noch einen zehnten Geburtstag irgendwann feiern können von "Second Life". Dafür ist vermutlich das Internet denn doch zu schnell. Aber den fünften, den kann man heute feiern. Wir haben das getan mit einem Gespräch mit dem Medienwissenschaftler Norbert Bolz. Herr Bolz, ich danke Ihnen!

Bolz: Sehr gerne!