Plädoyer für westliche Werte

Rezensiert von Ulrike Ackermann · 03.02.2008
Ob wegen der kolonialen Vergangenheit oder des Faschismus - im heutigen Europa sei Schuld zum moralischen Gebot geworden, so Pascal Bruckner in seinem Essay "Der Schuldkomplex". Der französische Philosoph plädiert für eine neue Wertschätzung unserer westlichen Freiheitstraditionen.
Pascal Bruckner, der streitlustige Philosoph und Schriftsteller aus Paris sorgte bereits letztes Jahr für einigen Furor: In der internationalen Debatte über den Umgang mit dem Islam in Europa attackierte er Timothy Garton Ash und Ian Buruma für deren beschwichtigenden Multikulturalismus. Die beiden hatten der mutigen Dissidentin des Islam, Ayaan Hirsi Aly, vorgeworfen, eine "Fundamentalistin der Aufklärung" zu sein. In seinem neuen Buch beleuchtet Bruckner die Ursachen dieses allseits beliebten Multikulturalismus, der die westlichen Werte und Errungenschaften in beunruhigender Weise relativiert.

Er konstatiert einen Schuldkomplex der Europäer, die aufgrund ihrer blutigen Geschichte geneigt sind, die westliche Zivilisation als Quelle aller Übel dieser Welt anzusehen. In der Verherrlichung des Fremden, Ursprünglichen, nicht von der Moderne und dem Kapitalismus Glattgeschliffenen manifestiert sich bis heute das schlechte Gewissen angesichts der europäischen Kolonialgeschichte. Doch zugleich waltet ein Paternalismus, der in den sogenannten unterentwickelten Völkern nur die verantwortungslosen Opfer sieht. Bruckner kritisiert deshalb

"Der Multikulturalismus sperrt mit den allerbesten Absichten Männer, Frauen und Kinder in Lebensformen und Traditionen ein, von denen diese sich oft befreien wollen. Die Identitätspolitik verstärkt erneut die Unterschiedlichkeiten, obwohl sie die Gleichheit befördern möchte, und sie konserviert im Namen des Antirassismus jene Vorurteile, die man mit Rasse und Volkszugehörigkeit verbindet."

Bruckner nennt dies den "Rassismus der Antirassisten". Nicht das Individuum zählt, sondern das ethnische oder religiöse Kollektiv, das Gruppenrechte einfordert und von der Mehrheitsgesellschaft gewährt bekommt. Die westliche Zivilisation ist heute aber doppelt herausgefordert: In den Parallelgesellschaften der Migrantenmilieus überwintern mitten in Europa archaisch-patriarchalische Lebensweisen, die mit den Errungenschaften der westlichen Aufklärung und Moderne kollidieren: die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Trennung von Staat, Gesellschaft und Religion, die Freiheit der Meinung, die individuelle Freiheit, sein Leben nach eigener Manier zu führen. Und gleichzeitig wütet von Seiten des politischen Islam ein militanter Hass auf die sogenannte Dekadenz des Westens.

Doch anstatt selbstbewusst seine mühsam errungenen Freiheiten zu verteidigen, reagiert Europa in Büßermanier. Es zweifelt an sich selbst und hegt einen Schuldkomplex angesichts seiner kriegerischen und kolonialen Vergangenheit. Das Paradoxe in der Geschichte Europas liegt jedoch gerade in der Verbindung von Fortschritt und Grausamkeit:

"Aus der mittelalterlichen Ordnung entstand die Renaissance, aus dem Feudalismus das Streben nach Demokratie, aus der Unterdrückung durch die Kirche die Aufklärung. Die Religionskriege beförderten die Idee des Laizismus. Die Eroberungen in Übersee ließen den Antikolonialismus entstehen und die Revolutionen des 20. Jahrhunderts die antitotalitären Bewegungen. Wie ein Kerkermeister, der dich erst ins Gefängnis wirft, um dir dann die Zellenschlüssel zuzustecken, brachte Europa der Welt den Despotismus und die Freiheit","

so Bruckner. Seit 1945 wird der Kontinent von regelrechten Reuequalen heimgesucht: Er gedenkt vor allem seiner Schandtaten, seiner Kriege, der religiösen Verfolgungen, der Sklaverei, des Imperialismus, des Faschismus und des Kommunismus. Seine Geschichte scheint eine einzige Abfolge von Gräueltaten zu sein, die in den beiden Weltkriegen und den Holocaust mündeten.

1945 und nochmals 1989 ist Europa diesem Abgrund entkommen und begann, sich friedlich einzurichten. Der Parole folgend, "Nie wieder Krieg", will es sich allerdings aus den unfriedlichen Angelegenheiten der restlichen Welt heraushalten und überlässt dies den ungeliebten Amerikanern. Die Alte Welt fühlt sich wohler im Schuldbewusstsein als in der Übernahme von Verantwortung. Denn die europäische Bußfertigkeit schafft Menschen, die sich für alte Vergehen entschuldigen, um sich die gegenwärtigen Verbrechen vom Leibe zu halten. Aber, so fragt Bruckner:

""Was ist wichtiger für uns, die dunklen Seiten unserer Vergangenheit oder die Lehren, die wir aus ihnen gezogen haben? Die lange Litanei der Massaker oder unsere Bemühungen, Knechtschaft und Ungleichheit zu entkommen? Bei der Beschäftigung mit unserem Erbe sollten wir uns eher für unsere Triumphe begeistern, als unsere Trauerfälle zu beklagen, denn der Triumph ist ja nichts anderes als der Trauerfall plus dessen Überwindung, die erduldeten und bezwungenen Leiden, die kollektive Anstrengung, dem Unglück die Stirn zu bieten. Europa darf nicht so wenig von sich halten. Es soll die Freiheit als sein köstlichstes Gut begreifen und sie bereits den Kindern in der Schule lehren. Es sollte den subversiven Ansatz seiner Ideen und die Vitalität seiner Grundprinzipien wiederentdecken."

Bruckner plädiert in seinem aufrüttelnden Essay für ein neues Selbstbewusstsein und eine neue Wertschätzung unserer westlichen Freiheitstraditionen - beides haben wir dringend nötig!


Pascal Bruckner: Der Schuldkomplex
Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa

Aus dem Französischen von Michael Bayer
Pantheon Verlag, München 2008
Pascal Bruckner: Der Schuldkomplex
Pascal Bruckner: Der Schuldkomplex© Pantheon Verlag