Plädoyer für ständige Veränderung

10.06.2008
Auch in seinem neusten Werk besticht der Evolutionsbiologe Josef Reichholf mit provokanten und ungewöhnlichen Thesen. Naturveränderungen sollten in gewissem Ausmaß zugelassen werden. Die Natur müsse nicht so bleiben, wie sie ist, um Vielfalt und Schönheit zu sichern. Nur funktionierende Ungleichgewichte erlaubten "nachhaltige Entwicklungen", schreibt Reichholf.
Der Münchner Zoologe, Evolutionsbiologe und Ökologe Josef Reichholf ist seit jeher ein streitbarer Geist, der mit seinen Thesen wiederholt Naturfreunde wie Klimaschützer gegen sich aufgebracht hat. Das wird mit seinem neuen Essay "Stabile Ungleichgewichte" nicht anders sein, denn er attackiert darin vehement die These vom anzustrebenden ökologischen Gleichgewicht, das sich einstelle, bewahre man die Natur nur streng genug vor menschlichen Eingriffen.

In der Tat ist die Vorstellung in der Ökologie-Szene weit verbreitet, dass sich im Wechselspiel der Kräfte, sofern man die Natur sich selbst überlässt, eine Balance zwischen den widerstreitenden Interessen der Pflan-zen- und Tierwelt herstellt. Wo das nicht der Fall ist, muss der Mensch eben notfalls korrigierend eingreifen, um das verlorene Gleichgewicht wieder herzustellen.

Bereits in seinem Vorwort attackiert der Münchner Wissenschaftler heftig die Vorstellung vom unschuldigen Naturmenschen, der im Einklang mit seiner Umwelt lebt, wehrt sich gegen die Schuldzuweisungen, mit denen der konsumierende Zeitgenosse überhäuft wird. Dahinter steckt für ihn die immergleiche Illusion: Die Welt soll so bleiben, wie sie ist oder zumindest, wie sie noch vor kurzem war, bevor der Mensch sie aus dem Gleichgewicht brachte. Ein Schmarren, so der Bayer, denn die vielbeschworenen Gleichgewichte in Ökosystemen existieren gar nicht.

Die Natur kennt keinen Status quo. Sie entwickelt sich vielmehr ständig. Evolution heißt das Grundprinzip und den Menschen gäbe es gar nicht, wären die Verhältnisse auf der Erde ewig gleich geblieben. Aufstieg und Untergang bedingen einander. Soweit nichts Neues. Die Schlussfolgerungen, die Reichholf daraus zieht, sind provokativ und ungewöhnlich. Er argumentiert allerdings durchaus vernünftig und nachvollziehbar, liefert auch konkrete Belege.

So sucht die belebte Natur von der Bakterie bis zum Elefanten, statt ein Gleichgewicht anzustreben, ganz egoistisch möglichst gute Lebensbedingungen für sich selbst zu erreichen, sich auf Kosten anderer Res-sourcen zu sichern, um das Überleben der eigenen Art in möglichst großer Menge zu sichern.

Jedes Lebewesen, so Reichholf, sucht also das Ungleichgewicht, keineswegs einen stabilen Zustand. Der kann nur erreicht werden, gibt es ausgesprochenen Mangel, also nichts zu verteilen. Dann müssen sich alle beschränken, nach Nischen suchen, noch unerschlossene Ressour-cen.

Deswegen ist denn auch der Tropenwald mit seiner enormen Artenvielfalt kein Zeichen besonders günstiger Lebensverhältnisse, sondern typisch für Spezialisierung aufgrund ständigen Mangels. Alles wird sofort wiederverwertet. Es entstehen keinerlei Überschüsse. Das ist denn auch einer der Gründe dafür, dass die Böden abgeholzter Tropenwälder zumindest am Amazonas für Ackerbau nicht taugen. Sie sind sofort ausge-laugt.

Gibt es die Möglichkeit im Kampf mit der Konkurrenz um die vorhandenen Ressourcen Vorteile zu erringen, so sucht sich jedes Lebewesen den größtmöglichen Anteil davon zu sichern. Als Beispiel nennt Josef Reichholf die Bäume, die in ihren Stämmen Aufbaustoffe ansammeln, die ihren Konkurrenten dann fehlen. Sie benutzen sie selbst gar nicht, sie monopolisieren sie vielmehr. Das Anhäufen und Vereinnahmen von Ressourcen gehört denn auch zu den Grundstrategien der Lebewesen. Folglich streben sie nach Ungleichgewicht.

Entwicklung setzt grundsätzlich zwar Ungleichgewichte voraus, aber es kann auch hier ein Zustand der Stabilität erreicht werden. Für den Ge-wässerökologen ist das beste Beispiel dafür der Fluss, der sich ständig ändert und dennoch immer Fluss bleibt im Unterschied zum See, der im Laufe der Zeit verlandet, zuwächst, verschwindet.

Reichholf nennt das Ideal Fließgleichgewicht, das heißt Veränderungen sind in bestimmtem Rahmen möglich - je nach Ressourcenangebot grö-ßer oder kleiner. So bleibt ein Fluss eben ein Fluss, auch wenn er sich ständig ändert. Er ist ein Beispiel für ein stabiles Ungleichgewicht.

Die Ökologie der Zukunft besteht für Josef Reichholf darin, dass wir Ver-änderungen in der Natur zulassen, aber genau herauszufinden haben, ab wann Eingriffe sie so schädigen, dass sie sich nicht mehr erholen kann. Um den österreichischen Dichter Ernst Jandl zu zitieren: "Wer will, das alles so bleibt, wie es ist, der will nicht, dass es so bleibt."

Für den Münchner Ökologen, der sehr anschaulich zu argumentieren versteht, steht fest: Die Natur selbst braucht Ungleichgewichte, um Neues hervorzubringen. Er sieht hier auch eine Analogie zur Gesellschaft. Für ihn entsteht aus "Gleichgewichten" keine bessere Welt. Nur funktio-nierende Ungleichgewichte erlauben "nachhaltige Entwicklungen" Darüber aber lässt sich trefflich streiten.

Die Übertragung der Gesetze der Natur auf das menschliche Verhalten erscheint nicht sehr schlüssig. Dennoch sind Reichholfs Thesen anregend und aufregend. Der Naturschutz jedenfalls sollte sie sehr ernst nehmen, um sein häufiges Versagen besser zu begreifen.

Rezensiert von Johannes Kaiser

Josef H. Reichholf, Stabile Ungleichgewichte. Die Ökologie der Zukunft
edition unseld Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2008
135 Seiten, 10 Euro