Plädoyer für die objektiven Tatsachen

04.11.2013
Gibt es die reine Wahrheit und kann der Mensch sie erkennen? Über diese Fragen zerbrechen sich die Philosophen seit Jahrtausenden die Köpfe. Paul Boghossian wendet sich in diesem Buch gegen einen "postmodernen Relativismus" - verfängt sich aber in einem uralten Teufelskreis.
Manche Schlachten werden immer wieder aufs Neue geschlagen, obwohl sie immer wieder ergebnislos enden. Ob es die reine Wahrheit gebe und wir sie erkennen können, oder ob alles Wissen, alle Wahrheiten nur Projektionen, also unsere eigenen Schöpfungen seien: Darüber tobt seit Jahrtausenden ein unentschiedener Kampf.

Die bekanntesten zeitgenössischen Denker – etwa Richard Rorty, Hilary Putnam, Nelson Goodman – neigen dazu, Wissensformen als menschliches Produkt und Konstrukt zu sehen: Konstruktivismus heißt diese Position. Sie hat zuletzt Deutschlands jüngsten Philosophie-Professor, Markus Gabriel, zu einem Gegenpamphlet getrieben ("Warum es die Welt nicht gibt"). Und natürlich springt er dem wahlverwandten New Yorker Kollegen Paul Boghossian zur Seite, mit einem Nachwort. Beide beißen sich zunächst an einem Popanz fest, einer naiven Extremposition, die eigentlich kein respektabler Philosoph vertritt: einem "postmodernen Relativismus" mit der Aussage, Wissenschaft sei nur eine von "vielen gleichwertigen Weisen ..., die Welt zu verstehen".

Meinung, Glaube, Geltung
Boghossian will zunächst die schwammigen Begriffe Wissen, Wahrheit und Erkenntnis präzisieren, ihre Funktionen voneinander absetzen. Sein wichtigstes Werkzeug und Kriterium zugleich ist dabei der Begriff der "Tatsache". Wie in einem Einführungsseminar unterscheidet er geduldig Meinungen, Glauben, normative Geltung usw., also subjektive Geltungsansprüche von solchen, die intersubjektiv, also für alle Menschen, nachvollziehbar seien.

Ob wir die Evolutionstheorie oder die Schöpfungsgeschichte für wahr halten, erkläre sich womöglich durch pragmatische, nicht aber durch erkenntnistheoretische Gründe. Erst diese würden eine Meinung zu einer rationalen machen. Und ob eine Meinung im Rahmen kulturell geltender Prämissen und Argumentformen berechtigt sei – z.B. die Erde als Scheibe oder die Alchimisten-Erwartung, Gold zu erschaffen -, das sage nichts über ihren Wahrheitsgehalt.

Für den Tatsachenobjektivisten gilt, dass es einige Tatsachen gibt, die unabhängig von uns Menschen bestehen. "Laut unserer besten Theorie über die Welt gab es Berge auf der Erde, lange bevor es Menschen gab. Wie lässt sich dann behaupten, wir hätten die Tatsache konstruiert, dass es Berge auf der Erde gibt?" Es seien vielmehr die Beschreibungsformen, die sozial bedingt seien – und die wiederum hingen davon ab, "welches Schema wir für nützlich halten". Mit Recht wendet Boghossian ein, "dass die These von der sozialen Bedingtheit von Beschreibungen völlig unabhängig von der These der Beschreibungsabhängigkeit von Tatsachen" sei.

Begriffsbildung als Grundlage des Wissensfortschritts
Allerdings verfängt er sich damit in einem uralten Teufelskreis: Wie verteidigt man die angebliche Neutralität einer "Protokollsprache", die vermeintlich nur Tatsachen registriert? Was wäre die Identität einer Tatsache ohne Attribute? Wo aber kommen diese her – sind sie Teil eines Objekts, oder sind sie von uns zugefügt, also eben sozial konstruiert? Auch der große "Weltteig", aus dem wir unsere Vorstellungen konstruieren, müsse ja Eigenschaften haben, die sich für solche Gestaltungen eignen.

Die Begriffe selbst seien ja ein Offenbarungseid, glaubt Boghossian: "Gehört es nicht unweigerlich zu Zweck eines Begriffs [einer Sache], etwas zu bezeichnen, das unabhängig von uns ist?" Das freilich hatten auch seine Gegner nie geleugnet – nur eben, ob die Begriffe selber menschenunabhängig seien. Immerhin birgt Boghossian eine altehrwürdige, zu Unrecht begrabene Debatte über Begriffsbildung als Grundlage des Wissensfortschritts.

Besprochen von Eike Gebhardt

Paul Boghossian: Angst vor der Wahrheit
Ein Plädoyer gegen Relativismus und Konstruktivismus
Übersetzt von Jens Rometsch
Suhrkamp, Berlin, 2013
164 Seiten, 14 Euro