Plädoyer für die Menschlichkeit

10.09.2010
Das Hemd des 20. Jahrhunderts ist gestreift. Nicht modisch fein wie das der Wall Street Broker, sondern breit. Wer es in einem Lager trug, hat unaussprechliches Leid erfahren. Davon will Yann Martel in seinem Roman erzählen.
Und so erzählt er davon, dass es womöglich Erfahrungen gibt, für die uns alle Worte fehlen - literarisch ein gewagtes Unterfangen. Martel erzählt von Menschen und sogar von Tieren, die den Versuch unternehmen, etwas Unbeschreibliches zu beschreiben - und scheitern. Mit ihnen scheint der Roman selbst zu scheitern.

Am Anfang steht der Erfolgsautor Henry T., der den Durchbruch als Schriftsteller mit einem Roman erzielte, in dem Tiere eine prominente Rolle spielen - unübersehbar also ein geistiger Verwandter Yann Martels, der 2003 mit seinem bookerpreisgekrönten "Schiffbruch mit Tiger" auch hierzulande berühmt wurde. Henry T. will vom Holocaust erzählen. Martel lässt sein literarisches alter Ego zu dem Schluss kommen, dies sei überhaupt nur in einer Verbindung aus Roman und Essay möglich. Davon aber wollen die Leser, im Roman vertreten durch das Verlags- und Buchhändlergewerbe, nichts wissen. Das ist die Exposition einer Mixtur aus Roman, Essay und Theaterstück.

Da versucht sich neben dem Autor Henry T. auch ein Tierpräparator im Schreiben über das Unbeschreibliche. Er ist zunächst Leser (der Bücher Henry T.´s), dann Autor (eines unvollendeten Theaterstücks), am Ende Akteur einer dramatischen Entwicklung. Er lässt in seinem Stück Vergil und Beatrice als Esel und Brüllaffe auftreten. Ihr Thema ist nicht nur die Liebe, sondern immer auch das Hemd des 20. Jahrhunderts, ein Name, den sie sich im Verlauf ihres Dialogs ausdenken. Der Tierpräparator fordert Henry T. auf, ihm beim Schreiben zu helfen. Am grausamen Ende der Geschichte kann aber nur er selbst die Sache auflösen. Und Henry T. versteht spät, was der Text mit ihm macht.
Über weite Strecken wirkt die Erzählung konstruiert. Wer das Buch nicht zu Ende liest, könnte sich fragen, ob da nicht ein gestandener Autor an seiner Materie gescheitert ist. Doch es kommt dieser Moment, in dem der zeitweise eher künstlich als kunstvoll geschürzte Knoten platzt. Dann ist all das Offensichtliche, das Papierne, sind die vielen Symbole und auffälligen Parallelen nicht nur verziehen, sie waren offenbar notwendig, um zu provozieren, was nun mit dem Text und den Lesern passiert. Man liest und weiß nicht, wie einem geschieht.

Das Unmögliche wird plötzlich möglich. Das ist ein starkes Stück Literatur, überraschend, bestürzend, berührend, ein Coup. Am Ende steht genau jene Betroffenheit des Lesers, deren Unmöglichkeit anfangs behauptet wird und die der Roman über weite Strecken scheinbar demonstriert - ein besonderes und besonders eindringliches literarisches Manifest gegen das Hemd des 20. Jahrhunderts, gegen Gewalt, Ausgrenzung, Unterdrückung, ein Plädoyer für die Menschlichkeit.

Besprochen von Hans von Trotha

Yann Martel: Ein Hemd des 20. Jahrhunderts
Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. Main
224 Seiten, 18,95 Euro