PJ Harvey: "The Hope Six Demolition Project"

Politisches Album mit düsteren Songs

Die britische Musikerin PJ Harvey auf dem Roskilde Festival in Dänemark am 30. Juni 2011
Die britische Musikerin PJ Harvey auf dem Roskilde Festival in Dänemark am 30. Juni 2011 © Torben Christensen/ dpa picture alliance
Christoph Reimann im Gespräch mit Mascha Drost · 14.04.2016
PJ Harvey zählt zu den renommiertesten Popmusikerinnen der Gegenwart. Nach ihrem Album "Let England shake" legt die Britin nun ein neues sehr politisches Werk vor. In "The Hope Six Demolition Project" verarbeitet sie Beobachtungen in Afghanistan und Washington.
Drost: Und wozu dieser kreative Prozess vor Publikum geführt hat, das erklärt uns jetzt mein Kollege Christoph Reimann. Er hat sich "The Hope Six Demolition Project" schon angehört. Saxofon soll dabei sein, das wurde eben schon gesagt. Und was noch?
Reimann: Im Grunde setzt Harvey den Sound des Vorgänger-Albums "Let England Shake" fort. Es handelt sich um düstere Songs mit Blues-Rock-Anleihen, durchzogen von prägnanten Folk-Melodien und Folk-Harmonien. In manchen wenigen Momenten – was toll ist – greift sie wieder zur E-Gitarre – so wie damals in den 90ern. Dazu häufiger als auf der letzten Platte ist ein Saxofon zu hören, das sich manchmal in free-jazz-artige Improvisationen zu steigern scheint. Neu auf diesem Album: der Chorgesang, der immer mal wieder vorkommt und eine Wirkung beschwörend wie eine Messe entfaltet.
Aber über allem thront diese großartige Stimme von PJ Harvey: ein beeindruckender Stimmumfang – den kennt man ja schon von ihr. Manchmal theatralisch eingesetzt: gefährlich hoch, schneidend, dann verärgert-zornig, manchmal sogar sarkastisch klingend, leidend, vor allen Dingen aber wütend.

"Die Texte drängen sich wirklich in den Vordergrund"

Drost: Was macht sie denn so wütend? Worum geht es in den Texten?
Reimann: Die Texte drängen sich wirklich in den Vordergrund auf dieser Platte. Und auch bei ihnen knüpft Harvey thematisch an das letzte Album an. Auf "Let England Shake" hatte sie ja noch auf ihr Heimatland geblickt – die Politik, die Geschichte – jetzt richtet sie den Blick hinaus in die Welt. Ein logischer Schritt also. Und wieder ist es ein politisches Album geworden. Im Moment erleben wir ja so eine Re-Politisierung der Popmusik. Viele Popmusiker setzen sich wieder mit politischen Themen auseinander: zum Beispiel im Rahmen der Black-Lives-Matters-Kampagne, dem US-Wahlkampf, oder es geht um die vielen Menschen, die jetzt Europa erreichen.
Aber was PJ Harvey – die ja früher eigentlich immer introspektiv über sich oder fiktive Charaktere geschrieben hat – was sie von vielen ihrer Kolleginnen und Kollegen unterscheidet: Sie begibt sich raus aus ihrer Komfort-Zone, raus aus Großbritannien. Am Anfang von "Hope-Six" standen nämlich ein paar Reisen: nach Afghanistan, in den Kosovo, nach Washington D.C.
Und wenn man sich so die Texte anschaut, dann ist die zentrale Aussage: "Wir leben in einer schlechten, oft unwürdigen Welt, und Schuld daran ist unser menschliches Verhalten."
Drost: Was hat sie denn konkret erlebt? Haben Sie ein Beispiel parat?
Reimann: Zwei Beispiele vielleicht. In Afghanistan – das singt sie in einem Song – hat sie eine obdachlose Familie beim Essen beobachtet – und zwar beim Essen von einem Pferdebein. Im selben Song geht es dann noch darum, wie Menschen dort sterben, beim Versuch, an Nahrungsmittel zu kommen.
Das zweite Beispiel: der Song "The Community of Hope". Da geht es um Washington DC. Sie hat sich in einen Problem-Stadtteil fahren lassen, beschreibt das Viertel als Gegend voller Menschen mit Drogenproblemen, armen Leuten und viel Elend.

Vorwurf des musikalischen Elends-Tourismus

Drost: Ich fasse mal zusammen: PJ Harvey, diese privilegierte, weiße, reiche Frau hat Gegenden besucht, in denen die Kluft zwischen arm und reich besonders groß ist. Sie hat Krisengebiete bereist und düstere Popsongs draus gemacht. Böse formuliert könnte man sagen: Es handelt sich um musikalischen Elendstourismus.
Reimann: Das ist zumindest der Vorwurf, den sich Harvey – die sich ja bisher nicht zu dem Album geäußert hat – machen lassen muss. Auf die Reisen ist sie nur als Beobachterin gegangen. Es gibt keinen Beweis dafür, dass sie auch mit Leuten vor Ort gesprochen hat. Auch in einem Text der Washington Post, der von jemandem geschrieben ist, der sie durch die Stadt fuhr, ist nur von der Fahrt die Rede. Harvey ließ sich durch das Problemviertel fahren und schrieb sich kleine Notizen in ihr Heft. Auch ist in dem Song "Community of Hope" ein Chor zu hören, der eben diese Zeile singt: Community of Hope. Eigentlich ein positiver Text, dachte sich der Chorleiter, als er gefragt wurde, ob er sie mit seinem Chor einsingen würde. Als er dann später mitbekam, dass der Song ein düsteres Bild seiner Stadt zeichnet, war er davon gar nicht begeistert.
Drost: Und was ist nun Ihr Fazit? Von der Musik begeistert, von den Texten eher nicht?
Reimann: Ich glaube, man kann mit den Texten dann etwa abgewinnen, wenn man bedenkt, dass sie diese Reisen eben als Beobachterin gemacht hat. Ähnlich wie ihr Begleiter, der Fotojournalist Semaus Murphy, handelt es sich bei ihren Songs um Momentaufnahmen, die aber vielleicht nicht immer die ganze Geschichte erzählen. Eine einseitige, subjektive Beobachtung also, was sie dann später bei den Aufnahmen ja auch gespiegelt hat: Die Leute konnten ihr zusehen beim Aufnehmen, aber partizipieren konnten sie nicht. Die Scheibe zum improvisierten Studio war einseitig verspiegelt: Harvey konnte ihre Fans davor nicht sehen.
Im Großen und Ganzen halte ich "Hope Six" für ein wichtiges Album, weil hier eine Musikerin, die von den Feuilletonisten in der ganzen westlichen Presse beobachtet wird, Themen und Probleme aufgreift, vor denen man ja doch sonst gerne die Augen verschließt.
Drost: Christoph Reimann über "The Hope Six Demolition Project". Das 9. Solo-Album von PJ Harvey erscheint morgen. Im Sommer ist die Britin dann für ein Konzert in Deutschland zu sehen, am 20. Juni in Berlin. Jetzt noch ein Song aus der neuen Platte, hier ist "The Orange Monkey".