Pippi Langstrumpf wird 60

Von Alexander Budde · 01.09.2005
Am 1. September 1945 erscheint eine schwedische Rebellin in der Welt der Literatur, die alle Kinderträume verkörpert: Pippi Langstrumpf. Sie ist stark, verwegen und lustig. In diesem Jahr wird die vielleicht umstrittenste Kinderbuchfigur Astrid Lindgrens 60 Jahre alt.
In der königlichen Oper ist der Spieltrieb ausgebrochen: Gewaltige knallrote Zöpfe wachsen aus dem Dach des altehrwürdigen Musentempels am Rande der Stockholmer Altstadt Gamla Stan. Und wo sonst frisch geputzte Damen in Abendkleidern zwischen Säulen wandeln, stürzt sich das Publikum nun bäuchlings über eine steile Rutsche in die Tiefe. Ein Werbe-Gag für die jüngste Produktion des Hauses, das "Pipi Långstrump"-Ballett.

Auf ihre alten Tage ist Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf aufgestiegen, bis ganz hinauf in den Olymp der Stockholmer Opernwelt. Eine solche Laufbahn war nicht abzusehen. Denn Pippi, die rotzfreche Göre mit Karottenhaar, naseweis und antiautoritär bis zum Abwinken, wohnt mit allerhand Haustieren in der Villa Kunterbunt. Ihr Papa ist ein Negerkönig, ihre Mama ein Engel. Sie hat Goldtaler ohne Ende, aber geht nicht zur Schule. Sie ist das stärkste Mädchen des Planeten. Alle wohlmeinenden alten Tanten sind entsetzt und schicken die Polizei. Die soll den Balg ins Kinderheim verfrachten:

Astrid Lindgren: "Darf man Pferde mit in Euer Kinderheim nehmen, fragt Pippi. Nee, natürlich nicht, sagt der Polizist. Das hätte man sich ja denken können, meint Pippi düster. Und Affen? Sicher nicht, das verstehst Du doch! Jaha, sagt Pippi, dann müsst ihr Euch woanders Kinder für Euer Heim besorgen. Ich gedenke nicht, dort einzuziehen!"

Vor 60 Jahren waren solche ungehorsamen Kindersprüche auch im prüden Schweden ein Skandal. "Ein Kind, das eine ganze Sahnetorte verschlingt und barfuss auf Zucker läuft, zeugt von geisteskranker Fantasie und rätselhaften Zwangsvorstellungen", dröhnte ein Pädagogikprofessor kurz nach der Veröffentlichung des ersten Pippi-Bandes.

Die Geschichte von der Seemans-Tochter entstand an einem dunklen Winterabend des Jahres 1941. Damals lag Astrid Lindgrens Tochter Karin über Wochen krank im Bett. Die fiebernde Siebenjährige forderte immer neue Geschichten. Die gestresste Mutter ersann die Figur der bärenstarken Pippi. Und deren Mythos wirkt bis heute nach. Der Schauspielerin Inger Nilsson, die in den siebziger Jahren in den Langstrumpf-Filmen die rotzfreche Göre spielte, werden herzergreifende Kinderbriefe ins Haus geschickt. Auf der Beerdigung Astrid Lindgrens vor drei Jahren in Vimmerby stand die sonst so scheue Nilsson noch einmal im Rampenlicht. Die Frau, die Pippi Langstrumpf war, wird die Rolle nicht mehr los.

Inger Nilsson: "Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, was die Leute in dieser Pippi sehen. Vor mehr als 30 Jahren wurden die Filme das erste Mal im Fernsehen ausgestrahlt. Und seitdem habe ich ihm Schatten dieser übergroßen Pippi Langstrumpf gelebt. Es ist nicht immer leicht. Und doch will ich mich nicht beklagen, Astrid. Du hast so viele beflügelt! Du hast ein unvergleichbares Leben gehabt!"

Den Literatur-Nobelpreis hat Astrid Lindgren nie erhalten. Doch in ihrem Namen zeichnet Schweden alljährlich Schriftsteller aus, die sich für die Rechte der Kinder einsetzen. Kinder- und Jugendliteratur habe ein Problem, meint die Preisträgerin des Vorjahres, Lygia Bojunga: Sie werde kaum als ernsthafte Literatur anerkannt. Millionen Kinder in Südamerika haben die schrägen und oft auch tieftraurigen Geschichten der 72-jährigen Brasilianerin verschlungen, in denen die Hauptrollen oft mit Tieren besetzt sind. Pippi Langstrumpf, so erinnert sich Lygia Bojunga an ihre eigene Begegnung mit der Jubilarin, habe Generationen von Mädchen ermuntert, Spaß zu haben und an die eigenen Fähigkeiten zu glauben.

Lygia Bojunga: "Wir beide sind uns wirklich ähnlich. Auch ich musste meine Frustrationen als Kind irgendwie verarbeiten. Ich bin im äußersten Süden Brasiliens aufgewachsen, in einer richtigen Macho-Gesellschaft. Und was gab es für einen Widerstand bei allem, was ich wollte. Meine Mutter sagte immer: Das ist nichts für ein Mädchen! Also habe ich mir gedacht: Du musst ganz schnell erwachsen werden. Dann kannst du aufstehen und für deine Rechte kämpfen!"

Auftritt von Pippi in der Stockholmer Oper: Gekleidet in eine Kittelschürze, zwei bunte Strümpfe an den Beinen, tobt sie zu heißen Rhythmen über die Bühne. Umringt von einer Horde Affen und schwarzen Kindern in Baströcken erinnern ihre Bewegungen mehr an Samba und Rumba als ans klassische Ballett. Die Musik schrieb der Komponist Georg Riedel, der bereits viele von Astrid Lindgrens Liedern vertont hat.
Von allerhand akrobatischen Einlagen erzählt Pippi-Darstellerin Anna Valev:

"Die größte Herausforderung für mich war, diese Rollschuhe zu beherrschen, mit deren Hilfe ich den Boden schrubbe. Ich bin nämlich vorher nie in meinem Leben Rollschuh gefahren. Und auch die Szene, wo wir in den Seilen hängen und durch das Meer ins Taka-Tuka-Land schwimmen. Da musste ich mich erstmal überwinden, Salto Mortale so hoch in der Luft zu machen. Das ist nichts, was man so auf Anhieb kann."