Pierre Bourdieu: "Manet"

Analyse eines aristokratischen Revoluzzers

Ein Mann steht vor dem Ölgemälde "Le Déjeuner sur l'herbe (Das Frühstück im Grünen)" aus dem Jahr 1863 von dem französischen Künstler Édouard Manet.
Ein Mann steht vor dem Ölgemälde "Le Déjeuner sur l'herbe (Das Frühstück im Grünen)" aus dem Jahr 1863 von dem französischen Künstler Édouard Manet. © Imago/ UPI Photo
Von Ingo Arend · 21.12.2015
Wie vollzieht sich eine symbolische Revolution? Am Beispiel des Begründers der modernen Malerei, Édouard Manet, ist der französische Soziologe Pierre Bourdieu dieser Frage nachgegangen und hat mit seinen Studien ein Grundlagenwerk der Kunstsoziologie geschaffen.
Eine nackte junge Frau sitzt in einer Waldlichtung, neben ihr zwei bekleidete junge Männer. Die Kritiker überschlugen sich wegen des Bildes "Le déjeuner sur l'herbe - Frühstück im Grünen", das Édouard Manet 1863 im Salon des Refusés ausstellte. Sie höhnten über die flächige Malweise, bemängelten die fehlerhafte Perspektive und schmähten das Sujet als obszön. Für die Kunstgeschichte gilt der Maler jedoch seither als Wegbereiter der Moderne.
Wenn der französische Soziologe Pierre Bourdieu sein nachgelassenes Werk über Manet im Untertitel "Eine symbolische Revolution" nennt, schlägt er in die gleiche Kerbe. Für den 2002 gestorbenen Wissenschaftler, Autor des Standardwerks "Die feinen Unterschiede" (1979), wälzt die Kunst Manets "die kognitiven und sozialen Strukturen" der damaligen Zeit um. Dennoch will er mit dem "Mythos vom Bruch brechen".
"Ikonologie muss soziologisiert werden"
Bourdieu sieht den 1832 geborenen Manet, der 1883 starb, nicht als genialischen Einzelgänger. Exemplarisch will er an ihm vielmehr die "sozialen Bedingungen künstlerischer Produktion" aufzeigen. Die "Ikonologie muss soziologisiert werden" hält er der stil- und objektfixierten Kunstgeschichte entgegen. Gegen den "Kult des Einzigartigen" soll eine "dispositionalistische Ästhetik" die sozialen Determinanten eines Werkes bestimmen, ohne Künstler und Werk zu ihrem bloßen Reflex zu degradieren.
Bourdieu nähert sich Manet folglich nicht biografisch, sondern analytisch. Er zeigt auf, wie Frankreichs staatsmonopolistisches System von Akademie und Salon und die gestiegene Zahl von Künstlern und Sammlern nicht mehr zusammen passten. Akribisch zeichnet er nach, wie der "aristokratische Revolutionär" Manet mit einem "Netzwerk von Beziehungen" seinen Aufstieg absichert, wie sich schon vor ihm eine antiakademische Malweise entwickelte. Des Künstlers spektakuläre Aktion 1863 wird in Bourdieus Lesart zum notwendigen Schlusspunkt der "Emergenz eines autonomen künstlerischen Produktionsfeldes".
Bourdieu setzt einen Standard in der Kunstkritik
"Manet" ist kein klassisches Buch, sondern eine Materialsammlung. Es besteht aus den Vorlesungen Bourdieus im Collège de France und dem – teils nur thesenhaften – Manuskript des Buches, das er wegen seines Todes nicht vollenden konnte.
Trotzdem liest man es mit Gewinn, so wie sich hier die Verfertigung des Gedankens beim Sprechen studieren lässt. Und auch, wenn das Werk die Bourdieu'sche Kunstsoziologie nur umreißt, setzt es Standards für Kunstkritik und – wissenschaft zu Zeiten der Inflation ästhetischer Scheinrevolutionen und Art-Celebrities.
Vorläufig wie "Manet" geblieben ist, wirkt Bourdieus Werk wie die "halbfertigen Skizzen", als die Kritiker seinerzeit Manets Werk missdeuteten. Dem akademischen Ideal zeitloser Vollendung zogen die beiden Neuerer den Entwurf, das Vorläufige und Imperfekte vor.

Pierre Bourdieu: Manet
Eine symbolische Revolution. Vorlesungen am Collège de France 1998-2000
Mit einem unvollendeten Buchmanuskript von Pierre und Marie-Claire Bourdieu
Aus dem Französischen von Achim Russer und Bernd Schwibs
Suhrkamp, Berlin 2015
921 Seiten, 58 Euro

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