Philosophischer Wochenkommentar

Der blinde Affekt des Populismus

Einige "Pogida"-Demonstranten in Potsdam behaupten bei einem "Abendspaziergang" im Januar 2016, sie seien das (belogene) Volk.
Einige "Pogida"-Demonstranten in Potsdam behaupten bei einem "Abendspaziergang" im Januar 2016, sie seien das (belogene) Volk. © dpa / picture alliance / Ralf Hirschberger
Von Hans-Joachim Lenger · 06.03.2016
Dumpfe Wut, panisches Ressentiment und Verschwörungsfantasien − das ist die Klaviatur, auf der die Populisten spielen. Doch vor solchen Emotionen dürfe die Politik nicht fliehen, meint der Hamburger Philosoph Hans-Joachim Lenger in seinem Wochenkommentar.
Problematisch am Populismus ist nicht zuerst er selbst. Problematisch ist früher noch die Instanz, die er auszubeuten sucht: der populus, das Volk, und davon abgeleitet auch der Pöbel. Denn was ist ein Volk? Immer handelt es sich um eine Konstruktion. Historisch verschweißt sie Vielheiten von Menschen, von Sippen oder Stämmen gewaltsam zu vermeintlich geschlossenen Formationen. Ein kriegerischer Zug ist ihnen zu eigen, und das wirkt in ihnen nach.
Zwar mag man die vermeintlichen Eigenarten eines Volkes in seiner ethnischen Herkunft verankern wollen; dann spielt man völkisch an den Grenzen eines biologischen Rassismus. Man mag sie in seiner staatlichen Verfasstheit erblicken; dann definiert man das Volk als ideelle Gemeinschaft von Verfassungspatrioten, wie es eine liberale Staatstheorie will. Oder man gründet sie im Mythos eines land of the free oder eines american dream, der sich im vermeintlich Erfolgreichen, im Milliardär etwa, erfüllt hat und inkarniert. Wie in jedem Mythos bleibt die Geschichte der Gewalt, die sich in ihm verbirgt, dabei unausgesprochen. Doch kehrt sie regelmäßig wieder und wendet sich als blinder Affekt nach außen. Eben darin findet der Populist sein Medium. Sein lärmender Auftritt, seine kalkuliert öffentliche Regelverletzung bündeln diffuse Energien, denen er mythisch Erlösung verspricht.

Strategie der Lähmung

"Die politischen Mythen handelten auf dieselbe Weise wie eine Schlange, die versucht, ihre Opfer zu lähmen, bevor sie angreift", schreibt der Philosoph Ernst Cassirer in seinem Buch über den Mythus des Staates. Als populistisch gilt gemeinhin diese politische Strategie einer Lähmung. Sie spielt mit den blinden Stimmungen, Affektlagen und Parolen, die in einem Volk umgehen, um dem diffusen Affekt eine Adresse im Nirgendwo zu geben.
Dumpfe Wut, die nicht wissen soll, was sie hervorbringt; ein haltloses, panisches Ressentiment, dem verloren ging, woran es sich noch halten könnte, und das sein Heil deshalb in Verschwörungsfantasien sucht: Dies ist die Klaviatur, auf der ein Populismus spielt. Hemmungslos beschwört er Trugbilder vermeintlicher Eigenarten, inszeniert er sie im Tabubruch und kehrt sie gewaltsam nach außen.

Die Brüche entziffern

Am sogenannten Wirtschaftsflüchtling wird dann Rache genommen dafür, dass es einst Tausende DDR-Bürger waren, die skandierten, sie würden zur D-Mark kommen, wenn die D-Mark nicht zu ihnen käme. An der Fremdheit Fliehender entzündet sich dann die dumpfe Wut darüber, dass man sich selbst und anderen fremd blieb. Nichts fürchtet der Mythos des Populisten deshalb mehr, als dass in den diffusen Affektlagen die Brüche entziffert werden, die sie gewaltsam überbrücken sollen.
Umso weniger geht es darum, solche Affektlagen zu fliehen. Im Gegenteil: Alle Politik ist auch eine des Affekts. Ihre Aufgabe wäre, in den begriffslosen Emotionen dasjenige aufzusuchen, was deren Blindheit speist: Die feinen Unterschiede, die Leere, die geschlossen werden soll. Wäre eine solche Politik, die mit der Angst vor dieser Leere umzugehen weiß, ebenfalls populistisch? Gewiss nicht. Sie würde die Affektlagen nur tiefer und vor allem genauer bearbeiten, als der Populist es vermag.
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