Philosophin Susan Neiman

"Flüchtlinge sind nicht nur eine Pflicht"

Ein syrischer Flüchtling arbeitet mit seinem Ausbilder in einem Metallbetrieb in Schleswig-Holstein
Ein syrischer Flüchtling arbeitet mit seinem Ausbilder in einem Metallbetrieb in Schleswig-Holstein © picture alliance / Carsten Rehder
Susan Neiman im Gespräch mit Ute Welty · 02.01.2016
Rund eine Million Flüchtlinge sind 2015 nach Deutschland gekommen. Die US-amerikanische Philosophin Susan Neiman ist vom Umgang der Deutschen mit der Flüchtlingskrise angenehm überrascht: Interesse und Weltoffenheit seien der richtige Weg.
Die Direktorin des Potsdamer Einstein Forums, Susan Neiman, lobt die Deutschen für ihren Umgang mit der Flüchtlingskrise.
"Die allerbeste internationale Nachricht des Jahres ist der Umgang von deutschen Menschen und zum Teil deutschen Politikern mit der Flüchtlingskrise. Es hat mich wunderbar angenehm überrascht", sagte die Philosophin im Deutschlandradio Kultur über die deutschen Bemühungen in der Flüchtingspolitik in Hinblick auf Zuwanderung und Integration. Ähnlich wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) plädiere sie für Weltoffenheit und die Wahrnehmung des Flüchtlingszuzugs als Chance für Deutschland. "Diese Flüchtlinge sind nicht nur eine Pflicht für Deutschland", so die US-amerikanische Philosophin, die seit 15 Jahren das Einstein Forum in Potsdam leitet und zuvor an den Universitäten von Yale und Tel Aviv unterrichtete.
Kritische Aufarbeitung der deutschen Geschichte als Grundlage
Vor allem die kritische Aufarbeitung der deutschen Geschichte habe dazu beigetragen, dass die Menschen tatsächlich bereit gewesen seien, "nicht die Sünde ihrer Eltern und Großeltern wieder zu begehen", sagte Neiman im Hinblick auf den Satz "Wir schaffen das" von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Die "Willkommenskultur" sei zunächst vom Volk ausgegangen, als Reaktion auf einen ersten Angriff auf ein Asylbewerberheim. Die Kanzlerin habe dann eine Führungsrolle übernommen, "auch unter scharfer Kritik", lobte Neiman.
Wirkliche Weltoffenheit und Interesse anstelle von Toleranz
Den im Zusammenhang mit dem Flüchtlingszuzug oft verwendete Begriff der Toleranz lehnte Neiman als negativ besetzt und unter psychologischen Aspekten falschen Begriff ab: "Ich finde, man braucht ein grundlegendes Umdenken: Man toleriert oft das, wogegen man nichts tun kann: Viel Lärm, schlechte Gerüche. Gerade, für die, die man mahnt, toleranter zu sein, ist das ein Fehler. Ich würde statt dessen von Weltoffenheit sprechen, von 'Chancen ergreifen'. Nicht dass wir tolerant sein sollen, sondern wirklich offen und interessiert vor allem", so die 1955 in Atlanta (USA) geborene Philosophin.
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Das vollständige Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Manche Dinge bleiben uns 2016 erhalten: Der Streit von CDU und CSU über die richtige Flüchtlingspolitik zum Beispiel, der sich an den verschiedenen Neujahrsansprachen nachvollziehen lässt. Bundeskanzlerin und CDU-Chefin Angela Merkel sieht in der Zuwanderung eine Chance für Deutschland, Ministerpräsident und CSU-Chef Horst Seehofer fordert erneut eine Begrenzung der Zahlen. Zwischen diesen beiden Positionen erlauben wir uns einen Blick von außen, und zwar zusammen mit Professorin Susan Neiman. Die amerikanische Philosophin leitet seit 2000 das Einstein-Forum in Potsdam, wo man sich dem intellektuellen, kritischen und innovativen Austausch verpflichtet fühlt. Guten Morgen, Frau Neiman!
Susan Neiman: Guten Morgen!
Welty: Seitdem Sie in Potsdam arbeiten, leben Sie in Berlin. Vorher haben Sie an den Universitäten von Yale und Tel Aviv Philosophie unterrichtet, und mit dieser internationalen Erfahrung, wie erleben Sie gerade die nationalen, die deutschen Bemühungen in Hinblick auf Flüchtlingspolitik, auf Zuwanderung und Integration?
Neiman: Ich muss sagen, es gab sehr wenig gute Nachrichten in diesem Jahr. Ich würde sagen, die allerbeste internationale Nachricht des Jahres ist der Umgang von deutschen Menschen und zum Teil deutschen Politikern mit der Flüchtlingskrise. Es hat mich wunderbar angenehm überrascht. Ich war zuvor keine große Anhängerin der Kanzlerin, aber ich würde, glaube ich, jedes Wort in ihrer Neujahrsansprache zustimmen.
Welty: Wo wir gerade von der Kanzlerin sprechen: Legendär ist ja schon dieser Satz "Wir schaffen das!" Was haben denn die Deutschen bisher geschafft, und was können sie schaffen?
Kritischer Umgang mit der eigenen Vergangenheit."
Neiman: Sagen wir so: Die Kanzlerin redet natürlich von der Wiedervereinigung, sie redet auch vom Wiederaufbau, was ja natürlich nicht allein von den Deutschen geschafft worden ist. Ich finde, was die Deutschen am Wichtigsten geschafft haben, ist ein kritischer Umgang mit ihrer eigenen Vergangenheit. Wie kein anderes Land der Welt hat Deutschland seine nationalen Verbrechen ziemlich gründlich aufgearbeitet. Es gibt natürlich immer noch Rassismus in diesem Land, aber ich glaube, diese Vergangenheitsaufarbeitung hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Menschen in diesem Land wirklich bereit waren, nicht die Sünde ihrer Eltern und Großeltern wieder zu begehen. Ich möchte aber auch betonen, diese Willkommenskultur ging erst mal vom Volk aus. Da war ein Abscheu vor diesem ersten Angriff auf ein Asylantenheim, Ende August war das. Die Kanzlerin hat ein bisschen gewartet, um zu sehen, was das Volk tut. Und ich finde es sehr schön, dass die Kanzlerin dann diese Führungsrolle übernommen hat, auch unter scharfer Kritik. Und das ist einfach die beste Nachricht, die ich kenne aus diesem Jahr.
Welty: Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Begriff der Toleranz, der ja grundsätzlich positiv besetzt ist und gern in Zusammenhang mit "weltoffen" verwendet wird?
"Toleranz ist nicht gleich Weltoffenheit"
Neiman: Bei mir ist der Begriff Toleranz nicht positiv besetzt. Ich finde, man braucht wirklich ein grundsätzliches Umdenken. Toleranz ist nicht gleich Weltoffenheit. Man toleriert zumeist das, wogegen man nichts tun kann, und oft das, was negativ besetzt ist. Viel Lärm, schlechte Gerüche werden toleriert. Ich plädiere wirklich für eine Weltoffenheit, und ich glaube, das hat auch die Kanzlerin gesagt. Die Flüchtlinge sind nicht nur eine Pflicht für Deutschland, sondern sie sind eine Chance für Deutschland. Und es bleibt zu hoffen, dass diese große Immigration uns alle einfach bereichert. Also nicht, dass wir tolerant sein sollen, sondern offen und interessiert vor allem.
Welty: Was bedeutet dann Ihre Forderung für weniger Toleranz für die tägliche Politik und das tägliche Miteinander?
Neiman: Ich finde, gerade für die Leute, die man mahnt, toleranter zu sein, ist das ein Fehler, weil das ist eine Erinnerung an die eigene Ohnmacht. Man toleriert wirklich das, wogegen man nichts tun kann. Ich würde stattdessen von Weltoffenheit sprechen oder vom Ergreifen von Chancen sprechen, aber einfach Toleranz zu rufen, ist – ich finde, dass es psychologisch der falsche Begriff ist.
"Man ist innerhalb von zwei Generationen Amerikaner"
Welty: Weltoffenheit wird natürlich auch mit den Vereinigten Staaten von Amerika verbunden, dem klassischen Einwanderungsland. Wodurch unterscheiden sich deutsche und amerikanische Betrachtungen von Migration und Integration?
Neiman: Wie Sie wissen, gibt es viele Amerikas, und man kann sagen, einerseits soll es absurd sein, weil Amerika ist das Einwanderungsland überhaupt. Sehr schön von Hannah Arendt einmal beschrieben, dass gerade diese Einwanderung Amerika immer zu neuer Geburt bringt. Das glaube ich, das glauben die meisten Menschen, mit denen ich zu tun habe, andererseits sieht man die Meinungsumfragen der Republikaner, wo Donald Trump mit wirklich xenophob-rassistischen Sprüchen punktet. Das ist natürlich absurd, aber gut: Man ist innerhalb von zwei Generationen von Amerikanern, und die, die Trump gut finden, wollen verhindern, dass neue dazukommen, das ist klar.
Welty: Deutsche Integrationspolitik und der amerikanische Blick darauf, zusammen mit Susan Neiman, Direktorin des Einstein-Forums. Ich danke für dieses "Studio-9"-Interview, das wir aufgezeichnet haben.
Neiman: Ja, gern!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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