Philosophie

Schwer Verdichtetes

Undatierte Aufnahme des deutschen Philosophen Martin Heidegger (1889-1976).
Der Philosoph Martin Heidegger (1889-1976) © picture alliance / dpa
Von Walter van Rossum · 07.05.2014
Martin Heidegger beeinflusste das Denken wie kaum ein anderer Philosoph des 20. Jahrhunderts. Durch seine Nähe zum Nationalsozialismus war er stets auch umstritten. Nun wird wieder über Heideggers Antisemitismus diskutiert - nach der Veröffentlichung seiner "Schwarzen Hefte".
Im Jahre 1927 veröffentlichte der Philosoph Martin Heidegger "Sein und Zeit", ein Buch, das bereits bei seinem Erscheinen als Jahrhundertwerk begrüßt wurde. Mit einiger Sicherheit kann man sagen: Dieses Buch hat das Denken des 20. Jahrhunderts wie kaum ein anderes Werk beeinflusst. "Sein und Zeit" entfaltet eine beeindruckende philosophische Komplexität und erweckt doch den Eindruck einer eigentümlichen Konkretheit.
"Worum sich die Angst ängstigt ist das in-der-Welt-sein selbst. In der Angst versinkt das umweltlich Zuhandene, überhaupt das innerweltlich Seiende. Die 'Welt' vermag nichts mehr zu bieten, ebensowenig das Mitdasein Anderer. Die Angst benimmt so dem Dasein die Möglichkeit, verfallend sich aus der 'Welt' und der 'öffentlichen' Ausgelegtheit zu verstehen."
Heidegger beschrieb die menschliche Existenz als Dasein, das nach seinem eigenen Sein fragt. In bestimmten Momenten erfährt der Mensch sich als ein zutiefst fragwürdiges Wesen. Eben noch wähnte er sich am Steuerknüppel seines Lebens, feierte sich als Schöpfer seiner Wirklichkeit, doch dann zerreißen die alltäglichen Zusammenhänge und dann hört er auf, die Welt, sein Handeln und sich selbst zu verstehen. Etwa im Zustand der Angst entdeckt sich der Mensch als Mangelwesen, dem es an Sein fehlt.
Mit dieser Interpretation der menschlichen Existenz als Dasein gerät Heidegger auf schweren Kollisionskurs mit dem Selbstverständnis der Moderne. Demzufolge ist der Mensch Schöpfer seiner Welt und seiner selbst, und was er noch nicht weiß, wird er bald wissen. Man darf sagen, dieser operative Humanismus hält bis heute, wenn schon nicht die Welt, so doch unser Weltbild zusammen. Auf der anderen Seite fallen wir immer wieder dahinter zurück: Niemand versteht die Welt, die er erschaffen haben soll, noch sich als ihren Gründer. Heidegger hatte ins Schwarze des modernen Dramas getroffen, das jeder aus eigenem Erleben nachvollziehen konnte: Hier die enormen, die genialen Weltmühlen des Realen, da die Bodenlosigkeit des Daseins und seiner Hervorbringungen.
Im Grunde die alte Frage: Wie kann ein Mensch Gott denken?
Doch Heidegger begnügt sich nicht damit, sich in der Tragödie des Nihilismus einzurichten. Rettung naht: das Sein – nach dem das Dasein fragt. Doch wie könnte es aussehen? Was mag das sein? Wie kann man das begreifen? Es ist im Grunde die alte Frage: Wie kann ein Mensch Gott denken? Und was wäre das für ein Gott, den er selbst begründet? Konsequent entwickelt Heidegger so etwas wie ein philosophisches Offenbarungsdenken. Er denkt keine Wahrheit, sondern sein Denken umkreist eine grandiose Abwesenheit – verschüttet, vergessen, vom Seienden überwuchert: das Sein. Von diesem Sein gibt es keine Kontur, kein Wesen, keinen Ort, keine Zeit – es deutet sich allenfalls als Mangel an. Heidegger nennt seine Überwindung der klassischen abendländischen Metaphysik "Seynsgeschichte" – mit y geschrieben.
Martin Heidegger: "Es gibt noch andere Verhältnisse als die gewöhnlichen. Goethe nennt diese anderen Verhältnisse: die tieferen. Und er sagt von der Sprache: Im gemeinen Leben kommen wir mit der Sprache notdürftig aus, weil wir nur oberflächliche Verhältnisse bezeichnen. Sobald von tieferen Verhältnissen die Rede ist, tritt sogleich eine andere Sprache ein – die poetische."
Martin Heidegger wurde 1889 im badischen Meßkirch geboren. Er stammte aus bescheidenen Verhältnissen, denen er treu blieb und die er bald zum privilegierten philosophischen Ort erklärte:
"Boden-ständig kann sein, wer aus Boden herkommend, in ihm genährt auf ihm steht – dies das ursprüngliche – jenes – was mir oft durch Leib und Stimmung schwingt – als ginge ich über die Äcker am Pflug, über einsame Feldwege zwischen reifendem Korn, durch die Winde und Nebel, Sonne und Schnee, die der Mutter Blut und das ihrer Vorfahren im Kreisen und Schwingen hielten..." (94; 38)
Heidegger zog es nicht in die Welt. Es zog ihn nicht in die Politik. In den Spektakeln der Moderne sah er allein den Tumult ihrer Uneigentlichkeit. Aber es ist ihm nicht verborgen geblieben, dass es da eine politische Bewegung gab, die gewissermaßen mit einigen seiner Haupt- und Wallungswörter durch die Straßen paradierte, eine Bewegung, deren Schrei nach Verwurzelung seinem Hunger nach Sein zu entsprechen schien und die damit enormen Zulauf erhielt. Eine Bewegung, die ihren Sog nicht materiellen Verheißungen oder rationalen Begründungen verdankte, sondern in unaufgeklärten Tiefen gründete.
Joseph Goebbels: "Wir wussten von vorneherein, dass es hier nicht mit einer wirtschaftlichen Reform getan wäre, sondern dass die Krankheit unseres Volkes viel tiefer lag und deshalb an den Wurzeln angefasst werden musste. Obschon die Aufgaben ökonomischer Art dringend und unabweisbar waren, haben wir uns doch unter ihrem Druck an die Arbeit der geistigen, seelischen und kulturellen Neugestaltung gemacht und konnten auf diesem Gebiet, wahre Wunder des Erfolgs verzeichnen."
Man darf vermuten, dass Heidegger sich einige Zeit mit der schwierigen Frage auseinandergesetzt hat, ob der Nationalsozialismus in seinem "eigentlichen" Kern sich nicht als politisch-militärischer Arm seines Denkens anböte.
"Das eigentliche, aber fernste Ziel: die geschichtliche Größe des Volkes in der Erwirkung und Gestaltung der Seinsmächte. Das nähere Ziel: das Zusichselbstkommen des Volkes aus seiner Verwurzelung und aus der Übernahme seines Auftrages durch den Staat." (94; 136)
1931 begann er mit der Aufzeichnung der Schwarzen Hefte
In jener Zeit begann er auch mit den Aufzeichnungen in den sogenannten Schwarzen Heften. Dabei handelt es sich um insgesamt 34 schwarze Wachstuchhefte, denen Heidegger von 1931-1970 philosophische Überlegungen aller Art anvertraute. Sie durften jedoch erst nach seinem Tod als letzte Bände der geplanten Gesamtausgabe seiner Werke veröffentlicht werden. Peter Trawny, Herausgeber der Heidegger-Gesamtausgabe, erklärt:
"Dann gibt es eine Werksphäre, die Abhandlungen, die er nicht selbst veröffentlicht hat zu seinen Lebzeiten, die sind nun schon eher an einen inner circle gerichtet. Es gibt also eine gewisse Veröffentlichungsqualität. Hier wird es dann sehr esoterisch, die adressieren sich an die, wie er sagt, an die wenigen."
Die Schwarzen Hefte stellen in der Tat eine Besonderheit in der Gesamtheit von Heideggers Schriften dar. Wie nur in wenigen anderen Texten setzt Heidegger sich hier mit den konkreten Realitäten auseinander – bzw. was er dafür hielt. Man könnte zugespitzt sagen: Heidegger korreliert hier sein Projekt der Seynsgeschichte mit dem Stand der Dinge. Es geht um das zur Welt kommen seiner Philosophie. Und er fragt sich, ob die nationalsozialistische Bewegung in ihrem Kern nicht so etwas wie die seynsgeschichtliche Vorhut darstellt.
"Erstens. Dass der Führerwille der Gegenwart geistig-volklich weit vorausgeworfen ist (...) Zweitens. Dass dieses den Führer tragende, einfangende und bestimmende Geschehen ursprünglich aus einer Wandlung des Seins schlechthin herkommt. " (94; 125)
Kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten bietet sich Heidegger die Gelegenheit, das – wie er selbst stets betont – Wagnis seines Denkens zu realisieren. Man bietet ihm das Rektorat der Universität Freiburg an. Im April 1933 übernimmt Heidegger die Aufgabe und zieht in eine – wie er glaubt - philosophische Schlacht. Entschlossen stellt er seine Philosophie in den Dienst des Führers:
"Wir Heutigen stehen in der Erkämpfung der neuen Wirklichkeit. Wir sind nur ein Übergang, nur ein Opfer. (...) Nur der Kampf entfaltet die wahren Gesetze zur Verwirklichung der Dinge, der Kampf, den wir wollen, den wir kämpfen Herz bei Herz, Mann bei Mann. (...) Nicht Lehrsätze und 'Ideen' seien die Regel eures Seins. Der Führer selbst und allein ist die heutige Wirklichkeit und ihr Gesetz."
Er habe sich aus politischen Gründen vom Nationalismus entfernt
Heidegger wurde auch Mitglied der NSDAP und blieb bis zum bitteren Ende pünktlich zahlendes Mitglied. Nach einem Jahr legte er sein Amt als Universitätsrektor nieder. Der Mann war eindeutig als Leiter einer großen Behörde ungeeignet, ebenso wenig beherrschte er die Kunst des politischen Taktierens. Später wird er allerdings erklären, er habe sich aus politischen Gründen vom Nationalsozialismus entfernt und schreckte nicht einmal davor zurück, sich als Regimekritiker zu verkaufen.
Peter Trawny: "Er hat doch stets eine gewisse Loyalität mit Hitler bewahrt, sodass man nicht sagen kann, er wäre zu dieser Zeit so eine Art anonymer Widerstandskämpfer gewesen. Das ist Unsinn. Es gibt also eine bestimmte Loyalität mit diesem Staat, die an bestimmten philosophischen Entscheidungen hängt, die Heidegger in den Dreißigerjahren getroffen hat."
Das kann man in den Schwarzen Hefte ziemlich genau nachlesen: Heidegger bleibt so viel und so wenig Nationalsozialist wie er immer war. Es geht ihm immer nur um die Frage, ob Menschen im Allgemeinen der Ankunft des Seins einen Boden bereiten können und ob Nationalsozialisten im Besonderen solche Menschen sein können. Beharrlich klopft er die geläufigen nationalsozialistischen Gesinnungstermini auf ihre seynsgeschichtliche Tauglichkeit ab:
"Wir wollen nicht den Nationalsozialismus theoretisch unterbauen, etwa gar, um ihn erst so vermeintlicherweise trag- und bestandsfähig zu machen. Aber wir wollen der Bewegung und ihrer Richtkraft Möglichkeiten der Weltgestaltung und der Entfaltung vorbauen,(...). Die stimmende und bildschaffende Kraft des Entwurfs ist das entscheidende – und das lässt sich nicht errechnen. Stimmung und Bild – aber muss dem verschlossenen Gestaltwillen des Volkes entgegentreten." (94,134)
An manchen Stellen mögen die Schwarzen Hefte im esoterischen Dunkel raunen, aber auf vielen Seiten tobt sich hier auch der aggressive Antihumanismus Heideggers aus, der Totalitarismus der letzten und einzigen Wahrheit, die Endlösung der Seinsgeschichte:
"Alles muss durch die völlige Verwüstung hindurch, der eine Vernichtung in der schärfsten Gestalt der scheinbaren Erhaltung der „Kultur" voraufgeht. Nur so ist das zweitausendjährige Gefüge der Metaphysik zu erschüttern und in den Sturz zu bringen. "
Heidegger war ein totalitärer Denker von eigenen Gnaden
Es ist müßig, darüber zu räsonieren, ein wievielprozentiger Nazi Martin Heidegger gewesen sein mag. Er war ein totalitärer Denker von eigenen Gnaden. Und zwar ein Hundertprozentiger. Doch nicht solche Sätze waren es, die in der öffentlichen Erregungsarena bei Erscheinen der Schwarzen Hefte für Furore sorgten, sondern einige wenige Überlegungen, wie man sie von Heidegger bis dahin tatsächlich nicht kannte:
Peter Trawny: "Das waren Äußerungen, die man wohl nicht anders als antisemitisch bezeichnen kann. Nun ist es so, dass diese Äußerungen in einen philosophischen Rahmen transformiert werden, und es also eine Interpretation des Weltjudentums durch Heideggers Philosophie in dieser Zeit gibt. Das war vorher völlig unbekannt."
"Die zeitweilige Machtsteigerung des Judentums aber hat darin ihren Grund, dass die Metaphysik des Abendlandes, zumal in ihrer neuzeitlichen Entfaltung, die Ansatzstelle bot für das Sichbreitmachen einer sonst leeren Rationalität und Rechenfähigkeit (...). Je ursprünglicher und anfänglicher die künftigen Entscheidungen und Fragen werden, umso unzugänglicher bleiben sie dieser 'Rasse'."
Trawny: "Das ist in der Tat ein antisemitisches Stereotyp, das in die Kulturkritik eingebaut wird. Das ist aber dann eben nicht mehr reine Kulturkritik."
Deutsche Professoren betrieben in jenen Jahren ihren rüden Antisemitismus als ganz normale Gesinnungsübung. Insofern bildete Heidegger fast schon eine Ausnahme: Er hielt sich mit antisemitischen Ressentiments öffentlich fast völlig zurück. Übrigens ganz im Gegensatz zu seiner Gemahlin Elfriede. Insofern ist es interessant, dass Heidegger sich erst ab ungefähr 1938 mit dem herrschenden Antisemitismus philosophisch auseinandersetzt – wenn auch nur in den intimen Übungsräumen seines Denkens, in den Schwarzen Heften.
Trawny: "Er weiß natürlich, dass es Verfolgung gibt. Die Synagogen brennen im November 1938. Die Menschen verschwinden aus Freiburg, wo er ja lehrte. Die Synagoge stand in der Nähe der Universität. Er hat also mitbekommen, dass Gewalt auf die Juden ausgeübt worden ist. In dieser Zeit gibt es dann diese Äußerungen. Das ist das Problem, das wir haben."
In dem Moment, wo der programmatische Antisemitismus unübersehbar in sein mörderisch tätiges Stadium tritt, sieht Heidegger sich genötigt, den Antisemitismus „seynsgeschichtlich" zu überprüfen.
"Die Juden "'eben' bei ihrer betont rechnerischen Begabung am längsten schon nach dem Rasseprinzip, weshalb sie sich auch am heftigsten gegen die uneingeschränkte Anwendung zur Wehr setzen." 96; 56
Heidegger übernimmt den modernen Antisemitismus
Heidegger unterstellt, dass Juden sich selbst in den Schranken einer Rasse definierten. Ein gängiger Topos des modernen Antisemitismus, der indes barer Unsinn bleibt. An verschiedenen Stellen in den Schwarzen Heften verwirft er den Begriff der Rasse. Heidegger hatte verstanden, dass „Rasse" selbst ein Produkt der Moderne, eine gelehrte gewissermaßen aufgeklärte Theorie darstellte, also eine Figur jener Metaphysik war, die er mit seiner Seynsgeschichte zu überwinden trachtete. In gewisser Weise formuliert er einen Antisemitismus ohne Rassebegriff. Wenn aber Juden selbst sich als Rasse verstanden, dann passte das in seinen Augen nur zum jüdischen Geist als einer der Triebkräfte der Moderne.
"Das Weltjudentum, aufgestachelt durch die aus Deutschland hinausgelassenen Emigranten, ist überall unfassbar und braucht sich bei aller Machtentfaltung nirgends an kriegerischen Handlungen zu beteiligen, wogegen uns nur bleibt, das beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern." (96; 262)
Juden sind für Heidegger so etwas wie ein wurzelloser über alle Welt verstreuter subversiver Zigeunerclan. Ihre konstitutionelle Heimatlosigkeit hat sie gewissermaßen zur Avantgarde der Moderne gemacht, ausgestattet mit Trieb und Begabung zur Rechenhaftigkeit, streben sie nach der Weltherrschaft im Zeichen ihrer Prägung:
"Eine der verdecktesten Gestalten des Riesigen und vielleicht die älteste ist die zähe Geschicklichkeit des Rechnens und Schiebens und Durcheinandermischens, wodurch die Weltlosigkeit des Judentums gegründet wird." (95; 96)
Heidegger wird später diesen unerträglich eisig-eitlen Satz zu Protokoll geben:
"Wer groß denkt, muss groß irren."
Das Problem Heideggers ist aber eher, dass er an zentralen Stellen überhaupt nicht denkt. Und insofern ist es nicht verwunderlich, dass seine Theorie des „Judentums" ausschließlich aus den Versatzstücken nationalsozialistischer Propaganda besteht.
So darf man sagen: Heideggers Antisemitismus erschöpft sich nicht darin, die platte Propaganda seiner Zeit wiederzukäuen, sondern darüber hinaus erteilt er ihr seinen seynsgeschichtlichen Segen. Das reichte einmal mehr, die Bedenklichkeit dieses Denkens zu denken. Doch was wissen wir jetzt mehr?
Peter Trawny: "Wir wissen jetzt, dass Heidegger in einer gewissen Hinsicht einen spezifischen Antisemitismus, den man auch in der nationalsozialistischen Propaganda festmachen muss, dass er da also doch verfallen war, und er in dieser Hinsicht nicht genügend philosophische Immunität mitgebracht hat, sich davon nicht beeinflussen zu lassen."
Und dennoch kann man sagen:
"Der Antisemitismus ist nicht konstitutiv für Heideggers Philosophie."
Ein Dutzend antisemitische Äußerungen auf über 1000 Seiten
Alles in allem umfasst das antisemitische Werk Martin Heideggers ein Dutzend Äußerungen verstreut auf über 1000 Seiten der Schwarzen Hefte. Der genuine Beitrag Heideggers erschöpft sich darin, einen Antisemitismus ohne Rassismus anzudeuten und ihm feine seynsgeschichtliche Weihen zu erteilen. Darüber hinaus erweist sich, dass Heideggers Denken komplexen Realitäten nicht annähernd gewachsen ist. Mag ja sein, dass das Seiende bloß eine apokalyptische Orgie der Uneigentlichkeit ist, aber da er ohne bestimmte Vorstellungen vom Realen offenbar nicht auskommt, bedient er sich bei dürftigsten Propagandawörtchen der Nazis wie Vaterland, deutsches Wesen, Blut, Boden und eben Judentum, um sie anschließend seynsgeschichtlich hochzutoupieren.
Lutz Hachmeister: "Das Bild von Heidegger hat sich geschärft durch die Lektüre der Schwarzen Hefte, aber nicht im Wesentlichen verändert."
Lutz Hachmeister. Chronist eines berühmten Heidegger-Interviews.

Der Publizist und Medienforscher Lutz Hachmeister
Der Publizist und Medienforscher Lutz Hachmeister© picture alliance / dpa /Erwin Elsner
"Also seine politische Philosophie, dass die Deutschen als Hüter Mitteleuropas gegen Bolschewismus und Amerikanismus gleichermaßen kämpfen müssen und dies mit Nietzsche und Hölderlin im Gepäck tun sollen, das hatte er vorher oft genug geäußert, das wird dadurch nur noch einmal verschärft. Er hat sich schon als politischer Philosoph begriffen. Das wird vielleicht noch deutlicher. "
In den Schwarzen Heften lässt sich das politische Denken Heideggers erschreckend deutlich erkennen. Und danach kann es kaum mehr einen Zweifel geben, dass er ein totalitärer Denker war, der beängstigende Träume von der Vernichtung der Moderne formulierte:
"Deren letzter Akt wird sein, dass sich die Erde selbst in die Luft sprengt und das jetzige Menschentum verschwindet. Was kein Unglück ist, sondern die erste Reinigung des Seins von seiner tiefsten Verunstaltung durch die Vormacht des Seienden." (96; 238)
Heideggers Seyn ähnelt einem alttestamentarischen Gott. Der war kein Demokrat. Der kam mit Schwert und Feuer und hat nur leben gelassen, was ihm diente. Heidegger lässt selbst keinen Zweifel daran: wenn nicht dieser Nationalsozialismus, dann ein anderer:
"Aus der vollen Einsicht in die frühere Täuschung über das Wesen und die geschichtliche Wesensherrschaft des Nationalsozialismus ergibt sich erst die Begründung seiner Bejahung – und zwar aus denkerischen Gründen. Damit ist zugleich gesagt, dass diese Bewegung unabhängig bleibt von der je zeitgenössischen Gestalt und der Dauer dieser gerade sichtbaren Formen."
Die Hefte führten zur Debatte um Heideggers Antisemitismus
Noch vor Erscheinen der Schwarzen Hefte zogen die Feuilletons in den Krieg um Heideggers Antisemitismus. Und als ob er geahnt hätte, was er aber nicht ahnen konnte, veröffentlichte Lutz Hachmeister genau in diesem Moment sein Buch Heideggers Testament. Der Philosoph, der SPIEGEL und die SS. Darin geht es um diese Geschichte jenes berühmten Interviews, das Martin Heidegger 1966 nach langem Zögern und etlichen Umwegen dem Spiegel gewährte. Von Anfang an allerdings hatte der Philosoph zur Bedingung gemacht, dass das Interview erst nach seinem Tod veröffentlich werden durfte.
Lutz Hachmeister: "Mir ging es tatsächlich um die Biografie eines Gesprächs. Und mich hat einfach die Situation fasziniert, dass sich da fünf oder sechs Leute in Freiburg treffen, Mitte der 1960er Jahre, im Grunde bei Beginn der Studentenrevolte und mit ganz unterschiedlichen biografischen Hintergründen. "
Gekonnt bringt Hachmeister die vertraute intellektuell-mediale Konstellation der Bundesrepublik ins Wanken. Hier der eigentlich mit Anaximander und Hölderlin ins intime Gespräch versunkene Philosoph Martin Heidegger, der über seine politische Vergangenheit entweder mürrisch schwieg oder sie mit peinlich bürokratischen Argumenten klein redete – auf der anderen Seite der Spiegel, vermeintliches Zentralorgan eines mit allen Wassern gewaschenen modernen Investigativjournalismus. Diese beiden Pole, die einander im gemeinen Verstand eigentlich abstoßen müssten, lässt Hachmeister in seiner spannenden Geschichte zu einer Interessengemeinschaft fusionieren.
Hachmeister: "Mit geht es schon um Inszenierungsstrategien sowohl von Heidegger, der sich sein Leben lang auch als publizistisches Projekt begriffen hat, deshalb auch diese voluminöse 102-bändige Gesamtausgabe, die erst jetzt an ihr Ende kommt, aber auch natürlich Rudolf Augstein, der damals Cadillacs fährt und sich als mondäner Referendarstyp gibt. Also eine ganz komische Mischung. Er sieht ja berufsjugendlich aus und ist eben der Autodidakt, der diese Philosophen sammelt und diese verfemten Typen, um das Blatt abzugrenzen gegen den STERN und die etwas biedere ZEIT. Also diese Inszenierungsstrategien, die in diesem wahrscheinlich berühmtesten Interview der Philosophiegeschichte zusammentreffen, das hat mich interessiert."
Nach etlichen Vorverhandlungen kommt es am 23. September 1966 endlich zu dem Interview. Rudolf Augstein, der Herausgeber des Spiegel wird begleitet von Georg Wolf, Wolf war Jahrgang 1914, kurz nach dem Abitur war er in die SA eingetreten und war am Ende des Krieges Abteilungsleiter des SD in Norwegen. Da war er 31 Jahre alt. Wolf war wie etliche andere Spiegel-Redakteure mit brauner Vergangenheit ...
Lutz Hachmeister: "... intelligent genug, um 1945 auch komplett umzuschalten. Also keine alten Nazis in dem Sinne, dass sie dem vergangenen Deutschen Reich nach getraut haben, sondern sich komplett neue Karrierechancen in der Bundesrepublik erarbeitet haben unter anderem beim Spiegel."
Wolf arbeitete seit 1951 für den Spiegel. Ende der 50er Jahre stand er kurz vor seiner Ernennung zum Chefredakteur, doch wegen seiner Vergangenheit musste Augstein dann davon absehen. Wolf hatte sich als aufmerksamer und sensibler Kulturjournalist einiges Ansehen erarbeitet. Er hatte auch das Interview mit Heidegger sorgfältig vorbereitet und dafür eigens einige Zeitzeugen interviewt. Und natürlich kannte er die Texte Heideggers, die der Schweizer Guido Schneeberger 1962 im Eigenverlag veröffentlicht hatte und in denen Heidegger als der philosophische Soldat Hitlers erschien, der zu sein er stets bestritten hatte. Augstein und Wolf hatten also jede Menge „Fragwürdiges" im Gepäck, als sie sich mit Heidegger zum Interview im Freiburger Haus des Philosophen trafen.
"Heidegger hat die Spiegel-Journalisten auflaufen lassen"
Lutz Hachmeister: "Man ist bislang eigentlich davon ausgegangen, dass Heidegger das Gespräch doch sehr grundsätzlich, auch inhaltlich redigiert hat. Das stimmt nicht. Es ist genau umgekehrt. Er hatte sich sehr sehr gut vorbereitet. Er hat eigentlich die Spiegel-Leute auflaufen lassen. Er hatte sich Briefe zurechtgelegt, Bücher, Zeugnisse von jüdischen Schülerinnen, die ihn auch während des Zweiten Weltkrieges entlasten. Und die Spiegel-Leute sagen immer:" Ja. Ja, das ist schlagend, Herr Professor, und ihr Verhältnis zu Jaspers war doch sehr freundschaftlich. Das sehen wir jetzt ein." Die sind im Grunde bloß froh, dass sie diesen NS Teil ohne Blessuren hinter sich gebracht haben. Und zum anderen muss man sagen, da wo Heidegger redigiert hat, da lügt er sich einfach in die Tasche, also er folgt der Verteidigungslinie, die er 1945 aufgebaut hatte. Danach war er so eine Art Widerstandskämpfer gegen die NS-Hardliner in der NS- Wissenschaftspolitik. Das versucht er noch mal mit verschiedenen Girlanden und Marginalien aufzubauschen."
Die Interviewer lassen Heidegger nicht nur Ausflüchte durchgehen, die sie leicht konterkarieren könnten, ebenso verzichten sie auf entscheidende Fragen. Zehn Jahre später, als das Interview nach Heideggers Tod veröffentlich wird, liest sich das natürlich ganz anders: Als hätte man kontrovers diskutiert. Das hatte Heidegger so genehmigt, das konnte ihm nur Recht sein. Noch viel schlimmer wird es allerdings, wenn man Passagen des Originals liest, die Hachmeister transkribiert hat. Da könnte man glatt verzweifeln über so viel unkonzentrierte, wirre Gesprächsführung. Man könnte glatt glauben, entweder der Spiegel wusste nicht, was er eigentlich wissen wollte, oder er wollte es nicht wissen.
Hachmeister: "Der Spiegel war so obskur wie die gesamte Bundesrepublik in den Fünfzigerjahren. Diese Mischung aus ehemaligen Geheimdienstleuten, Kadern, SS-Leuten, jungen Wehrmachtsoffizieren, Hitlerjugendfiguren, die überwog in der Redaktion. Die haben das Blatt richtig gemacht, zusammen mit Augstein und Becker. Das waren keine Randfiguren, sondern Leute, die für den Erfolg des Spiegels direkt verantwortlich sind."
"Machenschaften": boden- und grundlose Realitätsproduktion der Moderne
Lutz Hachmeister geht es um die Konfigurationen der sogenannten Vergangenheitsbewältigung. Es dämmert einem, in welchem Maß all die großen Auftritte des Gewissens, die Bewältigungsspektakel, die Sühnezeichen meist nichts als das Abarbeiten eines auferlegten Pensums waren. Unweigerlich gerät einem Heideggers Begriff der „Machenschaften" in den Sinn: die boden- und grundlose Realitätsproduktion der Moderne. Man mag Heideggers Theorie der Machenschaften teilen, man mag seine Kritik der Technik, seine Überwindung von Moral und Subjekt begrüßen, aber man darf nicht vergessen, dass all das für Heidegger nur Sinn macht, weil er seine Kritik mit einer Überwindungsperspektive ausgestattet hat: dem Seyn.
In seinen Augen harren wir alle im Wartesaal kommender Eigentlichkeit. Seine erfolgreichsten Schüler, die postmodernen französischen Philosophen haben Heideggers Kritik der Moderne modernisiert und als „Dekonstruktion" gewissermaßen sexy gemacht. In die Abgründe seiner Seynsgeschichte wollten sie ihm nicht folgen. Vermutlich haben sie die totalitäre Natur jenes Seyns wenigstens geahnt. Das Problem ist nur, dass die postmoderne Kritik an der Moderne nicht mehr sagen kann, in welchem Namen sie spricht, mit welcher Perspektive. Für den Lauf der Dinge spielt sie deshalb auch exakt keine Rolle. In gewisser Weise hat sie so die zerredete, zergliederte Moderne, die Heidegger überwinden wollte, bloß reproduziert. „Die Wüste wächst." Und die Gottsucher scharren schon mit den Hufen. Heidegger bleibt. Er hat ein Problem hinterlassen. Keine Antwort.
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