Philosophie

Aus vielen Welten die Wirklichkeit beobachten

Moderation: Ulrike Timm · 05.02.2014
Der Philosoph Markus Gabriel hat den Schlusstrich unter die Postmoderne gezogen und den Neuen Realismus ausgerufen. Demnach ist die Welt der Gedanken genauso wirklich wie die Welt der Dinge. Doch so vielfältig die Perspektiven auf einen Gegenstand sein können - das Ding bleibt, was es ist.
Ulrike Timm: Wenn man in manchen intellektuellen Kreisen kräftig mitschwurbeln möchte, dann lässt man so beiläufig wie möglich immer wieder ein Wort fallen: postmodern. Ausgehend von einem "alles ist irgendwie relativ und alles geht", ist die Kunst von Fluxus über Performance bis zum Bodypainting postmodern. Die Neue Musik jenseits des Seriellen – postmodern. Neuere Tendenzen in Film und Architektur – alles postmodern. Und wenn man alle bisherigen gesellschaftlichen Denkmodelle, politische oder religiöse Wege mal kurz wieder auf Anfang stellen will und für überholt hält, klar, dann denkt man – postmodern. Nicht weiter erstaunlich eigentlich, dass sich in jeder Begriffserklärung, die ich gefunden habe, so oder so ähnlich irgendwann der Satz findet: Die Facetten des Postmodernen sind zu vielfältig, um sie zu erklären.
Klingt gut, sagt wenig, denn das philosophische Buch, das in neuerer Zeit die Karriere des Begriffs begründete, Jean-Francois Lyotards "Das postmoderne Wissen" von 1979, das haben, jede Wette, die wenigsten gelesen, die das Wort postmodern so gern im Munde führen. Insofern finde ich es ganz beruhigend, dass unser Gast, der Philosophieprofessor Markus Gabriel aus Bonn der Postmoderne kritisch gegenübersteht. Ob uns das weiterbringt, werden wir hören. Schönen guten Tag, Herr Gabriel!
Markus Gabriel: Schönen guten Tag!
Timm: Herr Gabriel, in Kürze, und wissend, dass das für einen Philosophen eine gefährliche Einstiegsfrage ist – war Ihnen je wirklich anschaulich und klar, was das meint, postmodern?
Gabriel: In gewisser Weise schon. Also vieles bleibt schwammig, keine Frage, aber ich glaube, die Postmoderne setzt bei einer ganz einfachen Idee an, nämlich bei der Idee, dass wir gar nicht feststellen können, was eigentlich die Wirklichkeit ist. Das heißt, dass wir niemals mit der Wirklichkeit direkt zu tun haben, sondern immer nur mit unseren sozial konstruierten Vorstellungen von der Wirklichkeit. Deswegen wird da auch alles gleich schwammig.
Timm: Ich versuche das mal in meine Worte zu fassen: Jeder Mensch schaut von seinem ganz persönlichen Blickwinkel auf die Welt. Und deshalb gibt es so viele Welten wie Menschen. Ist doch logisch!
Gabriel: Genau! Und teilweise sind die noch radikaler, denn die sagen, man schaut ja auch im eigenen Leben immer verschieden. Die Dinge, die mich interessiert haben, als ich sieben war, und die mich zum Weinen oder Lachen gebracht haben, sind ganz anders als die Dinge, die mich heute interessieren. Warum soll ich also überhaupt davon ausgehen, dass da irgendwelche Dinge sind. Alles schwebt dann so durch die Zeit und wird unbestimmt.
Timm: Alles schwebt und wirkt unbestimmt und ist trotzdem überzeugend, wenn man das durchs eigene Leben sieht. Was kritisieren Sie an dem Gedanken?
Wo alles beliebig ist, ist die Katastrophe nicht fern
Gabriel: Dieser Gedanke legt eigentlich eine falsche Vorstellung von Freiheit nahe. Also man denkt, die Dinge sind völlig unbestimmt, man kann ohnehin dies und jenes tun. Und wozu das führt, ist dann klar, ja, also zu einer Form von Beliebigkeit, die wiederum Katastrophen nach sich zieht. Ich gebe ein ganz einfaches Beispiel. Man sagt, na ja, der eine sieht es so und der andere ganz anders, und vielleicht gibt es überhaupt keinen Klimawandel. Es gibt aber einfach einen Klimawandel.
Timm: Sie halten ja dem den sogenannten Neuen Realismus entgegen. Wodurch zeichnet der sich aus?
Gabriel: Der zeichnet sich im Wesentlichen dadurch aus, dass er auch anerkennt, dass es, wenn man so will, viele Welten und nicht die eine Welt gibt, der aber hinzufügt, dass wir in den vielen Welten, die wir bewohnen, die Wirklichkeit, so wie sie ist, beobachten. Also, wir leben nicht bloß in unseren Vorstellungen von der Wirklichkeit, wir leben schon mitten in der Wirklichkeit – die ist aber an sich vielfältig.
Timm: Dafür brauche ich ein Beispiel.
Gabriel: Also ein ganz einfaches Beispiel. Man stelle sich vor, man sieht zum Beispiel irgendwie einen rosa Stift auf dem Tisch liegen. Der sieht ja aus einer bestimmten Perspektive so und so aus, also je nachdem, wo man sitzt, ist der ein bisschen länglicher, räumlich verzerrt oder anders. So. Jetzt könnte man sagen, an sich liegt da eigentlich nur ein roter Stift, und meine Vorstellungen von dem Stift spielen keine Rolle. Das wäre eine Möglichkeit. Da hat die Postmoderne gesagt, nein, der Stift sieht für jeden anders aus, also gibt es da gar keinen wirklichen Stift. Das ist natürlich ein Fehlschluss. Was der Neue Realismus sagt, ist, es gibt da wirklich einen Stift und es gibt die verschiedenen Perspektiven auf ihn, und alles das ist gleichermaßen real.
Timm: Also, er versucht, die Welt der Dinge einzugemeinden in die Welt der Gedanken?
Gabriel: Richtig! Ganz genau. Oder, wenn man so will, auch andersherum. Das heißt, die Welt der Gedanken wird plötzlich Teil der Welt der Dinge. Die Dinge und die Gedanken sind gleich real. Das ist im Grunde genommen der Grundsatz des Neuen Realismus.
Timm: Wenn man sich also bemüht, über den Tellerrand seiner eigenen Welt hinauszuschauen und die Gedanken anderer Menschen, anderer Kulturen, anderer Wissenschaften einzugemeinden, dann denkt man sozusagen neo-real?
Gabriel: Ganz genau. Während die Postmoderne gesagt hat, ja, es gibt die Gedanken der anderen, aber die kann man im Grunde genommen nie verstehen. Das heißt, die Postmoderne hat immer gesagt, die anderen sind so anders, dass sie eigentlich gar nicht mehr zum selben Spiel gehören. Woraus natürlich folgt, dass man sie im Grunde genommen auch beliebig unterdrücken kann. Der Neue Realismus sagt, die anderen sind anders, aber wir können verstehen, wie sie sind.
Timm: Wir sprechen mit dem Bonner Philosophieprofessor Markus Gabriel hier im Radiofeuilleton von Deutschlandradio Kultur. Nun sagen Sie, stellen Sie diese beiden Denkrichtungen gegenüber. Nun hat das natürlich auch seinen besonderen Charme, wenn man geistig alles in Zweifel zieht, noch mal ganz von vorne anfangen will, die Uhr auf Null stellt, sagt, alles ist relativ, wir müssen es neu erkunden, was die Welt im Innersten zusammenhält. Hat der postmoderne Gedanke, den ich mal so etwas lax und wahrscheinlich katastrophal vereinfacht zusammenfasse, hat der denn für Sie wirklich keinen Charme.
Gabriel: Doch, der ist sogar ganz zentral. Aber ich würde sagen, der hat gar nichts mit der Postmoderne zu tun. Das ist einfach Philosophie. Das heißt, die Uhr auf Null zurückspulen und von vorne anfangen, also immer wieder neu anfangen, das ist schon Philosophie. Das macht die Philosophie seit über 2000 Jahren. Also die Postmoderne ist da gar nicht originell an der Stelle.
Timm: Nun hat ja jede Generation bei den Denkern, den Künstlern, den Literaten versucht, sich an dem, was vor ihr war, abzuarbeiten und es zu überwinden. Soweit, so normal. So betrachtet ist doch eigentlich jedes Zeitalter postmodern und der Begriff also immerwährend quicklebendig.
Gabriel: Wenn man das so auffasst, schon. Aber die Postmoderne wollte etwas mehr. Die hat gesagt: Das Projekt der Moderne, das heißt im Wesentlichen, wenn man an Aufklärung glaubt, an Freiheit glaubt, an Demokratie glaubt, um das zu vereinfachen – dieses Projekt ist gescheitert. Das heißt, im Grunde genommen leben wir gar nicht zusammen, weil wir uns für Freiheit und Gerechtigkeit entschieden haben, sondern jeder macht halt, was er so macht, und das sieht gerade gemütlicher aus in einer Demokratie. Das heißt, die Postmoderne wollte die Moderne hinter sich lassen. Und das halte ich für einen großen Fehler.
Timm: Nun haben Sie uns Ihr Denken schön anschaulich mithilfe eines kleinen Stifts beschrieben und gesagt, der ist einfach da, egal, aus welcher Perspektive man ihn sich anguckt, er ist da. Bringt mich so ein bisschen auf den Gedanken, dass man das vielleicht mit dem naturwissenschaftlichen Denken vergleichen kann. Also, die Naturwissenschaft arbeitet sich ja auch sehr fundiert und sehr beweisbar an der realen Welt ab. Nur, was er im Labor nachweisen kann, hält der Chemiker für wahr. Wie grenzen Sie sich denn mit Ihrem Neuen Realismus von schlichtem naturwissenschaftlichem Denken ab?
"Das naturwissenschaftliche Denken halte ich für provinziell"
Gabriel: Durch die Anerkennung der eigenständigen Wirklichkeit des Denkens. Das heißt, als Naturwissenschaftler muss ich ja immer so etwas sagen wie, na ja, wenn ich einen bestimmten Gedanken denke, dann denke eigentlich nicht ich den, sondern der Gedanke ist ein Feuern von Neuronen in meinem Gehirn, also ein Gehirnzustand. So kann man das im Labor beobachten. Aber die Realität eines Gedankens besteht nicht immer nur darin, dass ich mich in einem bestimmten Gehirnzustand befinde. Das heißt, das naturwissenschaftliche Weltbild neigt dazu, alles zu reduzieren auf einen einzigen Bereich, nämlich die Natur, das Universum, das, was sich untersuchen und technologisch kontrollieren lässt. Der Neue Realismus sagt dagegen, dass ein Gedanke über ein Kunstwerk genauso real ist wie ein neuronaler Zustand eines Gehirns oder eine Galaxie.
Timm: Das heißt, die Naturwissenschaft ist dem Philosophen zu klein. Das ist eine große Steilvorlage.
Gabriel: Genau. Ich nenne sie auch in einem Buch, das ich darüber geschrieben habe, eine ontologische Provinz. Also schlichtweg halte ich das naturwissenschaftliche Denken für provinziell.
Timm: Die Naturwissenschaftler denken da sicher anders.
Gabriel: Nicht unbedingt. Also, wenn ich einen wirklicher Naturwissenschaftler bin, wie zum Beispiel mein Bruder, der Biologe ist, dann untersuche ich zum Beispiel Proteine oder bestenfalls, zum Beispiel als Zoologe, bestimmte Lebewesen. Aber eigentlich sollte ich mir niemals anmaßen, dass ich gleich alles untersuche und allmächtig bin. Das wurde leider zu sehr aufgebauscht in letzter Zeit, dass man also plötzlich glaubt, die Naturwissenschaft ist für alles zuständig. Ein richtiger Naturwissenschaftler ist aber immer ein Spezialist.
Timm: Herr Gabriel, wir sind ausgegangen von der Postmoderne, die Ihnen zu beliebig ist und der Sie ein bisschen auch unterstellen, sie sei eigentlich ein in sich selber kreisendes Modell, das uns nicht weiterbringt. Wenn Sie denn die Postmoderne für gescheitert halten, woran ist sie denn gestorben?
Gabriel: Ich glaube, die Postmoderne ist in gewisser Weise 1989 gestorben. Die ist gestorben, wenn man so will, an der Wiedervereinigung. Das heißt, die Postmoderne lebte ganz stark davon, deswegen ist es auch eine Bewegung, die in den 60ern beginnt und dann ihren Höhepunkt in den 80ern hat. Die Postmoderne lebte von der Idee, dass es vielleicht auf der anderen Seite einer Grenze noch ganz andere Lebensentwürfe gibt, die vielleicht auch gut sind. Man war da vorsichtig, aber die französischen postmodernen Philosophen flirteten alle mit dem Maoismus oder teilweise sogar Stalinismus. Also man flirtete immer mit solchen Dingen, radikal linken Gesellschaftsentwürfen. Die sind aber in gewisser Weise realhistorisch fürs Erste gescheitert, und damit ist die Postmoderne auch in Frage gestellt worden.
Timm: Die Postmoderne ist tot, meint der Philosophieprofessor Markus Gabriel von der Uni Bonn. Heute Nachmittag lassen wir Sie aber ungeachtet dessen wieder auferstehen, ab 14 Uhr in einem Gespräch mit dem Mann, der die Postmoderne in Deutschland so richtig publik gemacht hat, mit Wolfgang Welsch nämlich. Markus Gabriel, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Gabriel: Danke für die Einladung!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.