Philosoph unter den Dirigenten

Von Wolfgang Schreiber · 11.07.2012
Die Eigenarten des Dirigenten Sergiu Celibidache waren berühmt: Er forderte mehr Proben als die Kollegen, er liebte die langsamen Tempi, er lehnte Schallplatten ab. Am 11. Juli 1912 wurde er geboren.
Die filmreife Szene spielt im kriegszerstörten Berlin des Jahres 1945: Unbekannter Außenseiter wird über Nacht zum berühmten Mann. Sergiu Celibidache heißt der junge Rumäne, der plötzlich an die Spitze der Berliner Philharmoniker gelangt und mit seinem Charisma triumphiert, seiner brennenden Hingabe an die Musik. Über 400 Mal wird Celibidache vor diesem Orchester stehen. Aber die darauf folgende Dirigentenkarriere führt ihn durch Stürme und Krisen. Sie mündet erst viel später in glücklichere Zonen.

Sergiu Celibidache wird am 11. Juli 1912 in Roman nahe der moldavischen Grenze geboren. Er lernt Klavier spielen, studiert später Philosophie und Mathematik – 1936 wagt er den großen Sprung und geht nach Berlin, studiert Musikwissenschaften, Philosophie, Komposition und Dirigieren. Der Krieg aber wälzt alles um. Celibidache bekommt nur deshalb bei den Berliner Philharmonikern seine Chance, weil der Dirigent Wilhelm Furtwängler, beschädigt im Dritten Reich, Dirigierverbot hat. Celibidache erobert mit seinem flammenden Geist, seiner Energie, Orchester und Publikum. Doch er ist nicht nur ein Dirigent aus künstlerischer Besessenheit, vielmehr ein Musiker mit philosophischer Denkart, der sich dem Buddhismus nahe fühlt.

"Ich habe mich sehr mit dem Zen befasst, das ist diese buddhistische Richtung. Und einmal frug ein Schüler seinen Meister: 'Was liegt hinter dem Denken?' Und der Patriarch antwortet: 'die Wirklichkeit'. Das ist das, was auf mich als konzentrierte Philosophie am tiefsten bis heutzutage eingewirkt hat."

Joseph Haydn war der Aufklärer unter den Komponisten – Sergiu Celibidache der Philosoph unter den Dirigenten. Genau das bestimmte seine Arbeit bei den Orchestern mit dem Ziel: Transparenz des Musizierens durch fanatische Arbeit am Klang. Sein künstlerischer Anspruch war immens, sein Umgang mit Orchestern nicht problemlos. Als nach Furtwänglers Tod die Philharmoniker in Berlin nicht ihn, den Unbequemen, sondern Herbert von Karajan zum Nachfolger küren, beginnen für Celibidache Jahre der Suche, des Wanderdirigierens in Mexiko, Israel und Japan, in Schweden, Frankreich und Italien. Stets mit dem Drang zum Unterrichten. Celibidaches Glück: 1979 wird er Leiter der Münchner Philharmoniker. Dem Orchester verleiht er seinen besonderen Stil des Musizierens.

"Es ist das deutscheste Orchester, was es gibt. Wenn Sie heute in einem Orchester sagen: Vibrieren Sie mal deutsch, was ist denn das für einen normalen Musiker? Kein Mensch weiß, man will wie die Israelis schnell, wie die Amerikaner schnell, brillant, virtuos. Was deutsch heißt, es ist schon längst verschwunden."

Deutsch musizieren hieß für Celibidache: Breite und Fülle des Klangs, reiche Artikulation, langsame Tempi, keine Zugeständnisse an den Musikkommerz, keine Platten – sie waren für ihn nur wie eine Fotografie, nicht die musikalische Wirklichkeit. Zu Celibidaches Begriff von Transparenz zählten die offenen Orchesterproben, wahre Lektionen. Orchestertourneen verbreiteten den Ruf der Philharmoniker unter Celibidache weltweit. Erst nach seinem Tod 1996 kommen die Konzertmitschnitte in dicken Boxen auf den Markt. Ist das Verrat an seinen Prinzipien? Auf jeden Fall die Chance, einem genialischen Dirigenten des Jahrhunderts dauerhaft zu begegnen.